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Judentum✡️🕎 Hat das alte Testament (AT) der Bibel eine allgemein gültige Ethik?

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Das Alte Testament (AT) der Bibel ist für Nichtjuden oft problematisch zu lesen. In christlichen Kreisen wird es meist stiefmütterlich behandelt (gibt aber auch Ausnahmen).

Was wir wissen ist, dass die noachidischen Gebote für alle Menschen gelten um vor Gott als "gerecht" zu gelten. Daher missioniert das Judentum u.a. auch nicht, mal abgesehen davon, dass man Jude von Geburt an ist oder eben nicht.

Was sind die noachidischen Gebote: HIER.

Die Frage ist, ob es im AT im Vergleich zum neuen Testament (NT) der Bibel eine allgemeingültige Ethik gibt? Aus dem christlichen Glauben wird ja immer mit den Lehren des NT eine solche Ethik begründet, aber selten bis nie mit dem AT.

 

 

 

Quelle: wie immer öffentlich.

(Lieber Autor, falls die Verwendung der Veröffentlichung nicht mehr gestattet oder gewünscht ist, bitte einfach Kontakt zu uns aufnehmen. Dann entfernen wird das umgehend.)

 

 

 

Altes Testament und allgemeingültige Ethik: Plädoyer für ein Second Quest nach den Noachidischen Geboten

Siegbert Riecker

 

 

1. Adressaten einer christlichen Ethik
1.1 Allgemeingültige oder spezifisch christliche Ethik, oder beides?

Es ist alles Wort Gottes, wahr ist es, aber Gottes Wort hin, Gottes Wort her, ich muß wissen und acht haben, zu wem das Wort Gottes geredet wird. ... Man muß mit der Schrift säuberlich handeln und verfahren. ... Man muß nicht allein ansehen, ob es Gottes Wort sei, sondern vielmehr, zu wem es geredet sei, ob es dich treffe oder einen andern. Da scheidet sichs denn wie Sommer und Winter.1

Im systematischen Bereich christlicher Theologie unterscheidet man im Hin- blick auf die Adressaten einer Ethik zwischen einer allgemeinen »gesamtge- sellschaftlichen« und einer spezifisch christlichen »binnenkirchlichen« Ethik.2

Bei der Untersuchung alttestamentlicher Gebote und neutestamentlicher Paraklesen fällt formal auf, dass sie sich in der Regel an das Volk Gottes bzw. die Gemeinde der Gläubigen richten. Interessanterweise wird eine systema- tisch-theologische christliche Ethik jedoch hauptsächlich allgemeingültig, für Christen und Nichtchristen, formuliert.

Martin Luther, »Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose schicken sollen 1525«, in: Kurt Aland, Hg., Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 5. Die Schriftauslegung, 4. Auflage (1.Auflage 1963), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990, S. 91-109, hier S. 103f.

Zur Terminologie vgl. Ulrich H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themen- felder, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 14f, sowie Helmut Burkhardt, Einfüh- rung in die Ethik. Teil I: Grund und Norm sittlichen Handelns (Fundamentalethik), 2. Auflage (1. Auflage 1996), Gießen: Brunnen, 2005, S. 20f.

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Helmut Burkhardt verweist auf den Umstand, dass insbesondere durch die Übernahme des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant (1724-1804) »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« im modernen protestantischen Be- reich eine spezifisch christliche Ethik über weite Strecken völlig abgelehnt wird. Gruppenspezifische Regeln und Gebote sind nach diesem Verständnis ein Zeichen von Unfreiheit.3 Dass dies nicht die einzig mögliche Sicht der Dinge ist, zeigt allein ein Blick auf die Psalmen 1, 19 und 119, sowie auf Deutero- nomium 4,5-8. Dort ist das Gesetz eine gnädige Gabe Gottes, ein Geschenk. Die spezifische Gruppe der Israeliten genießt eine besondere Beziehung zu Jhwh und empfängt ein Vorrecht, »the privilege of conducting their entire lives in accordance with his standards of conduct, which are themselves reflections of his character«.4

Eine der seltenen Stimmen gegen den modernen protestantischen Trend erhebt Karl Heim (1874-1958) in seinen Tübinger Vorlesungen, der »christli- che Ethiken, die allgemein gültige Forderungen aufstellten« bewusst ablehnt und vom Neuen Testament her »die Ethik einer bestimmten Gemeinde« nach- zeichnen möchte: »An die Stelle des kategorischen Imperativs tritt die Berg- predigtforderung«.5

1.2 Abriss der geistesgeschichtlichen Entwicklung

Zur Begründung ihrer Allgemeingültigkeit knüpft die christliche Ethik an den bereits vorchristlich entstandenen Gedanken des Naturrechts an. Klassisch formuliert der römische Politiker Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.) diesen Gedanken so:

Das wahre Gesetz ist die richtige Vernunft in Übereinstimmung mit der Na- tur. Es erfaßt alle, ist ständig gleichbleibend und ewig. ... Es ist dasselbe in Rom und Athen, heute und später. Es umspannt alle Völker und Zeiten als ewiges und unveränderliches Gesetz. Es spricht zu uns gleichsam der Lehrer

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Immanuel Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Kants Werke. Akademie Text- ausgabe IV, Berlin: De Gruyter, 1978 [1785], S. 385-464, hier S. 421. http://www.korpora.org/Kant/aa04 (zugegriffen 30. März 2010). Burkhardt, Ethik I, S. 108 verweist auf die Aufnahme von Kants Denken in die protestantische Ethik durch den Neukantianer Johann Georg Wilhelm Herrmann, Ethik. 5. Auflage (1. Auflage 1901), Tübin- gen: Mohr, 1921, S. 2, 7.

Paul Enns, »Law of God«, in: Willem A. VanGemeren, Hg., New International Dictionary of Old Testament Theology & Exegesis, Carlisle: Paternoster, 1996, Bd. 4, S. 893-900, hier S. 897. Karl Heim, Die christliche Ethik. Tübinger Vorlesungen. Nachgeschrieben und ausgearbeitet von Walter Kreuzburg, Tübingen: Katzmann, 1955, S. 165.

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und Herrscher der Welt: Gott. Er hat dieses Gesetz erdacht, ausgesprochen und gegeben. Wer ihm nicht gehorcht, wird sich selbst untreu und verleugnet seine Menschennatur.6

Wilfried Härle fasst fünf klassische Grundprinzipien der stoisch-ciceronischen Tradition zusammen:

  • neminem laedere (niemanden verletzen);

  • suum cuique (jedem das Seine [geben]);

  • honeste vivere (ehrenhaft leben);

  • deum colere (Gott verehren);

pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten).7
Die entscheidende Weichenstellung zur Aufnahme des Naturrechtsgedankens

»􏰀Vater􏰁 eines 􏰀christlichen􏰁 Naturrechts«. Seine klassische Prägung erhält der christliche Naturrechtsgedanke bei Thomas von Aquin (1225-1274), vor allem in den Fragen 90-97 in Band 1/II seiner Summa Theologica. Er unterscheidet zwischen dem in Gott bestehenden ewigen Gesetz (lex aeterna), dessen Ab- glanz in der Natur, dem Naturrecht (lex naturae), welches sich wiederum nie- derschlägt in dem geltenden positiven Recht (lex humana). Korrektur und Er- gänzung erfährt dies wiederum durch das offenbarte Gesetz (lex divina).9 Das ewige Weltgesetz prägt die Strukturen der Schöpfung. Diese wiederum kann der Mensch mit Hilfe seiner (katholisch: nicht gefallenen) Vernunft erkennen und ihnen entsprechend leben.

Der christliche Naturrechtsgedanke wird nun sowohl durch die Aufklärung als auch durch die Reformation aufgenommen und modifiziert. Die Aufklärung löst das Naturrecht von Gott ab. Hugo Grotius etwa prägt bereits im Jahr 1625 die Formel etsi deus no daretur auch ohne einen Schöpfergott könne es ein für alle Menschen gültiges Recht geben: »Die hier dargelegten Bestimmungen würden auch Platz greifen, selbst wenn man annähme, was freilich ohne die

Marcus Tullius Cicero, De Republica III, 22, zitiert nach der Übersetzung durch Martin Ho- necker, Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe, Berlin: De Gruy- ter, 1990, S. 113.
Wilfried Härle,
Ethik, Berlin: De Gruyter, 2011, S. 125.

Honecker, Theologische Ethik, S. 114, vgl. S. 111-123 zu Geschichte und Kritik des Natur- rechts.
Patrick Nullens und Ronald T. Michener,
The Matrix of Christian Ethics. Integrating Philoso- phy and Moral Theology in a Postmodern Context, Colorado Springs: Paternoster, 2010, S. 93- 99 verweisen auf den Niederschlag der Lehre in dem Katechismus der Katholischen Kirche, §§ 1951f.

in die christliche Ethik erfolgt durch Augustinus von Hippo (354-430), den 8

Noachidische Gebote

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größte Sünde nicht geschehen könnte, daß es keinen Gott gäbe oder daß er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere«.10

Die Reformation knüpft bei Augustinus an, sieht im Gegensatz zur scholas- tischen Lehre jedoch einen starken Bruch zwischen Natur und Gnade, da durch den Sündenfall auch die Vernunft des Menschen verdorben ist.11 In seiner Pre- digt »Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose schicken sollen«, ge- halten am 27. August 1525 in Zusammenhang einer Reihe über das Buch Exo- dus, setzt sich Martin Luther mit der Frage auseinander »Warum predigst du denn Mose, so er uns nichts angehet?«12 Mit anderen Worten: Wie können speziell an das alttestamentliche Gottesvolk gerichtete Gebote eine Bedeutung für Menschen darüber hinaus haben? Zunächst wendet er ein: »Geh hin zu den Juden mit deinem Mose, ich bin kein Jude, laß mich unbehelligt mit Mose«, und: »Die Heiden sind nicht schuldig, dem Mose gehorsam zu sein. Mose ist der Juden Sachsenspiegel«.13 Dann aber begründet er naturrechtlich mit Hilfe von Römer 2,14 (»Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht ha- ben, sich selbst Gesetz«):

So halte ich nun die Gebote, die Mose gegeben hat, nicht deshalb, weil sie Mo- se geboten hat, sondern weil sie mir von Natur eingepflanzt sind und Mose allhier mit der Natur übereinstimmet usw. Aber die anderen Gebote im Mose, die nicht allen Menschen von Natur eingepflanzt sind, halten die Heiden nicht, gehen sie auch nichts an, wie z.B. vom Zehnten und andern, die doch auch schön sind. ... So lesen wir Mose nicht deshalb, weil er uns betreffe, daß wir ihn halten müssen, sondern weil er mit dem natürlichen Gesetz überein- stimmt und besser abgefaßt ist, als die Heiden (es) immer hätten tun kön- nen.14

Damit eröffnet Luther die Möglichkeit einer positiven Anknüpfung christlicher Ethik an das alttestamentliche Gesetz, ohne die völlige Gefallenheit des Men-

»etiamsi daremus ... non esse Deum«, Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis Libris Tres, Band 1, Lausanne: Marci-Michaelis Bousquet, 1751, S. 8, Übersetzung nach: De Jure Belli ac Pacis Libris Tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Die Klassiker des Völkerrechts in modernen deutschen Übersetzungen, Hg. Walter Schätzel, Frankfurt: Textor, 1950. Vgl. Klaus Müller, Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum, Studien zu Kirche und Israel 15, Berlin: Institut Kirche und Judentum, 1994, S. 200-237, ausführlich zu Grotius und der weiteren Wirkungsgeschichte der Noachidischen Gebote in der christlichen Theologie.

Vgl. die sehr ausführliche Darstellung des Unterschieds aus lutherischer Sicht durch Christi- an Herrmann, Gott und Politik. Eine Einführung in politische Ethik, Witten: Brockhaus, 2009, S. 65-74, 91-100.
Martin Luther, »Unterrichtung«, S. 99.

Ebd., S. 99, 100. Ebd., S. 101, 107.

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schen einschließlich seiner Vernunft aufgeben zu müssen. Gott hat den Heiden einen heute nur noch »milchglasigen« Spiegel seines Gesetzes ins Herz ge- pflanzt. Die klare, reine Form dieses Gesetzes findet sich unübertrefflich for- muliert im Alten Testament. Nicht alle Details des alttestamentlichen Gesetzes sind in der nur noch in groben Zügen vorhandenen Einpflanzung erkennbar. Dennoch eignen sich die hervorstechenden Gebote des Alten Testaments, wie etwa der Dekalog (eigentlich »zehn Worte«),15 aufgrund ihrer unnachahmli- chen Schönheit und Klarheit am besten dazu, den Inhalt des natürlichen Geset- zes zu beschreiben. Das führt zu dem Schluss, dass es auch im protestantischen Bereich ein legitimer Weg ist, eine allgemeingültige christli- che Ethik an dem Inhalt des Dekalogs zu orientieren.

1.3 Kritik einer naturrechtlichen Begründung allgemeingültiger Ethik

Bis heute unterliegt der Naturrechtsgedanke eindringlicher Kritik, doch nicht jede Kritik erscheint gleichermaßen berechtigt. So lässt sich der Vorwurf eines »naturalistischen Fehlschlusses« durch den schottischen Philosophen David Hume (1711-76) in seinem Werk Ein Traktat über die menschliche Natur nur unter Absehung eines Schöpfers durchhalten. Hume argumentiert, dass man vom Sein (Natur) auf ein Sollen (Ethik) nicht schließen darf, da das Sein will- kürlich ist und bei einer Orientierung daran auch das Sollen der Willkür verfal- len würde.16 Ist jedoch das Sein eine durch Gott teleologisch gestaltete Schöp- fung, so ist ein daran orientiertes Handeln nicht sinnlos, sondern »schöpfungs- gemäß«.17

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Zur Struktur der »zehn Worte« vgl. Hendrik Koorevaar, »The Structure of the Ten Words in Exodus 20: 1-17«, in: M.W. Pretorius, Hg., The Secret of Faith. In Your Heart - In Your Mouth. In honour of Donald Moreland, Heverlee: Evangelische Theologische Faculteit, 1992, S. 92- 99, und ders. »De Opbouw van de tien Woorden in Exodus 20:1-17«, Acta Theologica 15 (1995), S. 1-15.

»’Tis impossible, therefore, that the character of natural and unnatural can ever, in any

sense, mark the boundaries of vice and virtue«, David Hume, A Treatise of Human Nature Be- ing an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects, Neu- auflage (1. Ausgabe 1739f), London: Thomas und Joseph Allman, 1817, S. 179.
Vgl. Werner Neuer, »Die ethische Verantwortung des Glaubens gegenüber Gottes Schöp- fung«, in: Christian Herrmann, Hg.,
Wahrheit und Erfahrung Themenbuch zur Systemati- schen Theologie. Band 2: Christologie, Anthropologie, Erlösung, Heiligung, Wuppertal: Brock- haus, 2005, S. 292-333, hier S. 298, der dort mit Recht davor warnt, das »Schöpfungsgemä- ße« nicht zu verwechseln mit einer »normativen Kraft des Faktischen«, »weil das 􏰀Faktische􏰁 keineswegs identisch ist mit dem 􏰀Schöpfungsgemäßen􏰁, sondern ganz und gar durch das Sündersein des Menschen mitbestimmt ist«. Vgl. ferner Arthur F. Holmes, Wege zum ethi- schen Urteil. Grundlagen und Modelle, Wuppertal: Brockhaus, 1987, S. 64-77.

Noachidische Gebote

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Eine weit problematischere Seite des Naturrechts ist dessen inhaltliche Of- fenheit. »Das scholastische Naturrecht als solches ist inhaltsleer. Es muß seine konkreten Inhalte von außen gewinnen«.18 Bereits Karl Barth erkennt hier ei- ne starke Ideologieanfälligkeit und lehnt den Gedanken von daher rundweg ab.19 Grundlegend für eine naturrechtliche Argumentation ist zunächst die Frage nach der »Natur« des Menschen, die sehr unterschiedlich beantwortet wird. Geht man etwa sozialdarwinistisch von einem natürlichen »Recht des Stärkeren aus«, hat das fatale Folgen für die Ethik.20

Die hier nur angerissene Problematik lässt schließen, dass allein eine kon- sequent aus Gottes Offenbarung eruierte Füllung des Naturrechtsgedankens den Menschen wirkungsvoll vor ideologischem Missbrauch schützen kann.

Doch nicht erst der Inhalt, sondern bereits die Begründung des Naturrechts muss in Gottes Offenbarung gegründet sein. Der aus dem Neuluthertum des 19. Jahrhunderts stammende Begriff der Schöpfungsordnung erscheint vielen Ethikern trotz mancher Einwände als besonders geeignet, um die neutesta- mentlichen Hinweise auf ein alle Menschen gleichermaßen betreffendes Recht zu bezeichnen.21 Diese können hier nur stichwortartig erwähnt werden: Jesus greift in Matthäus 19,4-8 hinter Mose auf den Zustand der Schöpfung zurück.

Honecker, Theologische Ethik, S. 122. Bereits Helmut Thielicke, Theologische Ethik. Band 1: Prinzipienlehre. Dogmatische, philosophische und kontroverstheologische Grundlegung, 2. Auflage (1. Auflage 1955), Tübingen: J.C.B. Mohr, 1958, S. 683 konstatiert in seiner aus- führlichen Kritik (S. 629-58, 682-98) eine zweifelhafte »Variabilität« des Naturrechtsbegriffs in der Geschichte.

Vor einer »Ideologieanfälligkeit« warnt Honecker, Theologische Ethik, S. 110f. Karl Barth beschreibt die Hintergründe seiner Auseinandersetzung mit natürlicher Theologie und Na- turrecht eindrücklich in seiner Kirchlichen Dogmatik, Bd. II, 1, S. 194-200.
Viel Elend ist naturrechtlich begründet über die Menschheit gebracht worden, wie die Kolonialpolitik, die Sklaverei, die Unterwerfung der Indianer, selbst die Kastration päpstlicher Sänger. Vgl. für weitere Beispiele Honecker,
Theologische Ethik, S. 122 und Härle, Ethik, S. 126. Thielicke, Theologische Ethik I, S. 682f: »Entsprechend werden auch die Menschenfresser eine Art Naturrecht besitzen, innerhalb dessen die Menschenfresserei eine Tugend ... ist«.

Vgl. zu Vertretern und Argumentation Fritz Lau, »Schöpfungsordnung«, in: Kurt Galling, Hg.,

Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswis- senschaft. Fünfter Band, 3. Auflage, Tübingen: Mohr, 1961, Sp. 1492-4. Vgl. zu folgendem Klaus Bockmühl, »Über die Geltung der Zehn Gebote heute. Eine Ortsbestimmung des Deka- logs«, in ders., Hg., Glauben und Handeln. Beiträge zur Begründung evangelischer Ethik, Gie- ßen: Brunnen, 1975, S. 50-59. Helmut Burkhardt, »Der Naturrechtsgedanke im hellenisti- schen Judentum und im Neuen Testament«, in ders., Hg., Begründung ethischer Normen. Be- richt von der 5. Theologischen Studienkonferenz des Arbeitskreises für evangelikale Theologie (AfeT) vom 9.-12. September 1987 in Tübingen, Wuppertal: Brockhaus, 1988, S. 81-97, ders., Ethik I, S. 64. Markus Bockmuehl, Jewish Law in Gentile Churches. Halakhah and the Begin- ning of Christian Public Ethics, Edinburgh: T&T Clark, 2000, S. 113-43. Vgl. kritisch zu einer positiven Auswertung der neutestamentlichen Lehre von der Natur Honecker, Theologische Ethik, S. 120 und Härle, Ethik, S. 126.

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auf In Römer 1,26f unterscheidet Paulus zwischen »natürlichem« und wider- natürlichem sexuellen Verkehr. Nach Römer 2,14 tun die Heiden »von Natur«, was das Gesetz fordert. In 1.Korinther 11,14 fragt Paulus: »Lehrt euch nicht die Natur?« Weitere Hinweise werden in der Areopagrede des Paulus (Apg 17) gefunden, auch die »goldene Regel« aus Matthäus 7,12 ließe sich als ein prak- tisches Beispiel allgemeiner Ethik heranführen, möglicherweise auch das »je- dermann« aus Römer 13,1.

Die Natur wird hier nicht als normatives Offenbarungselement neben die Offenbarung Gottes durch sein Wort gestellt, wie selbst Emil Brunner gegen- über Karl Barth einräumt, »daß die Botschaft der Kirche nicht zwei Quellen oder Normen hat, etwa die Offenbarung und die Vernunft, oder das Wort Got- tes und die Geschichte, und daß das kirchliche oder christliche Handeln nicht zwei Normen hat, etwa das Gebot und die Ordnungen.«22 Der Mensch trägt zwar in sich eine grobe Kenntnis des Willens Gottes, welches ihn unentschuld- bar macht. Doch ist der Mensch gefallen, so ist diese Kenntnis selbst zumindest teilweise pervertiert, und auch der Zugang zu dieser Kenntnis mit Hilfe der Vernunft ist nicht mehr verlässlich. Ferner fehlt ihm die Kraft zur Umsetzung dieser Kenntnis.23 Von daher erklärt sich der paradoxe Sachverhalt, dass gera- de der Blick auf die natürliche Kenntnis des gefallenen Menschen als Empfän- ger von Gottes Willen zu unzuverlässigen Ergebnissen bezüglich des Inhalts dieser Kenntnis führt.24 Unter Rückgriff auf Luthers Verständnis von Römer 2,14 ist es demgegenüber der Blick auf Gott als den Geber seines Willens und seiner Heiligen Schrift als klarster Ausdruck desselben, welcher die zuverläs- sigsten Ergebnisse bezüglich des Inhalts dieser Kenntnis liefert.

Emil Brunner, Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, Tübingen: Mohr, S. 6. Vgl. in diesem Zusammenhang den programmatischen Titel seiner Ethik Das Gebot und die Ord- nungen. Entwurf einer protestantisch-theologischen Ethik, Tübingen: Mohr, 1932.
Thielicke,
Theologische Ethik I, S. 9 fasst die Argumentation von Wilhelm Herrmann, Ethik, S. 110ff in Bezug auf die Kraft zur Umsetzung des Willens Gottes in der Formulierung zu- sammen: »Der Mensch ist wohl pointiert gesprochen – 􏰀auto-nom􏰁, aber nicht 􏰀auto-mobil􏰁. Helmut Burkhardt, Ethik I, S. 108-110 bemängelt zu Recht, dass diese Aussage nicht weit ge- nug geht. Dem gefallenen Menschen fehlt nicht alleine die Kraft zur Umsetzung, auch die Kenntnis von Gottes Willen selbst ist oft so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass ohne Erlö- sungshandeln kaum mehr positiv an diese angeknüpft werden kann (vgl. Röm 3,20b mit Joh 16,8-11).

Clive Staples Lewis, Die Abschaffung des Menschen. 4. Auflage (1. Auflage 1979), Einsiedeln: Johannes, 1993, S. 91-103 führt zahlreiche Belege aus vergangenen und gegenwärtigen Kul- turen und Religionen an, um eine durchgängige gemeinsame Weltethik nachzuweisen, un- abhängig von einem Glauben an Gott. Kritisch dazu Thomas Schirrmacher, Ethik, 3. Auflage (1. Auflage 1994), Hamburg: Reformatorischer Verlag Beese, 2002, Bd. 2, S. 25.

Noachidische Gebote

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1.4 Der Ansatz bei den Schöpfungsmandaten in der Ethik Bonhoeffers

Die Ethik Dietrich Bonhoeffers (1906-45) besteht aus einer Zusammenstellung verschiedener Fragmente, da er selbst sein Werk nicht mehr fertigstellen kann. Bonhoeffer geht bei dem Entwurf einer allgemeingültigen Ethik weniger den Weg der Nutzung von zunächst spezifisch ausgerichteten Texten mittels einer natürlichen Theologie, sondern sucht vielmehr nach Mandaten, welche im Text selbst auch ursprünglich an alle Menschen gerichtet sind. Das heißt, er setzt nicht bei den primär an Israel gerichteten zehn Geboten oder der primär an die Nachfolger von Jesus gerichteten Bergpredigt an, sondern konsequent bei der Schöpfung der gesamten Menschheit. Dabei entwirft er eine Ethik als Mandatelehre, das heißt, er fragt nach dem Schöpfungsauftrag (Mandat) des Menschen. Vier Mandate benennt er:25

  1. Das Mandat der Arbeit oder Kultur (mit Verweis auf Gen 2,15; 3,17-19; 4,17ff),

  2. das Mandat der Ehe,

  3. das Mandat der Obrigkeit (mit Verweis auf Gen 4,22.23f),

  4. das Mandat der Kirche.

Alternativ zu dem Begriff der Schöpfungsordnung führt Dietrich Bonhoeffer den Begriff der Erhaltungsordnung ein. Nach dem Sündenfall setzt Gott Ord- nungen ein, durch welche er die sündige Welt »in ihre Grenzen weist, wobei aber keine dieser Ordnungen als solche mehr Ewigkeitscharakter trägt, weil sie alle allein um der Erhaltung des Lebens willen da sind.«26 Damit wird aus- drücklich die Möglichkeit eröffnet, auch nach Genesis 3,6 Ordnungen eines all- gemeinen Ethos zu finden.

Systematisch konsequenter verfolgt der reformierte Theologe John Murray

(1898-1975) den Ansatz Bonhoeffers. Er erschließt sieben Schöpfungsmanda- te:27

Dietrich Bonhoeffer, Ethik. Dietrich Bonhoeffer Werke VI, München: Kaiser, 1998, S. 54-60. Im Abschnitt S. 392-412 redet Bonhoeffer von »Kultur« statt »Arbeit«.
Dietrich Bonhoeffer,
Schöpfung und Fall. 2. Auflage (1. Auflage 1989). Dietrich Bonhoeffer Werke III. München: Kaiser, 2002, S. 129, vgl. S. 138f. Vgl. Walter Künneth, Fundamente des Glaubens. Biblische Lehre im Horizont des Zeitgeistes, Wuppertal: Brockhaus, 1975, S. 186-9. Bonhoeffer selbst lehnt den Begriff der Schöpfungsordnung ab und gebraucht den Begriff der Erhaltungsordnung aufgrund der Missbrauchsgefahr nach 1933 nicht mehr (S. 129f, Anm. 2).

John Murray, Principles of Conduct. Aspects of Christian Ethics, Grand Rapids: Eerdmans, 1957, S. 27-44, vgl. Walter Kaiser, Toward Old Testament Ethics, Grand Rapids: Zondervan, 1983, S. 31, S. 153, Fn. 4.

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  1. Vermehrung (Gen 1,28),

  2. die Erde füllen (1,28),

  3. die Erde untertan machen (1,28),

  4. über die Lebewesen herrschen (1,28; vgl. V.27),

  5. Arbeit (2,15),

  6. Sabbat (2,2f),

  7. Ehe (2,24).

Dieser bereits mit geringem Aufwand sehr fruchtbare Blick in das Alte Testa- ment lässt die Frage aufkommen, ob hier nicht noch weitere Spuren eines all- gemeingültigen Ethos zu finden sind. Gibt es darüber hinaus Hinweise auf eine Unterscheidung zwischen allgemeingültigem und spezifisch israelitischem Ethos? Nicht zuletzt steht hier auch Wilfried Härles kritische Rückfrage an das Naturrecht im Raum, »wie uns diese Instanz zugänglich wird und damit ihre normative Funktion übernehmen kann«,28 das heißt auch: Wie findet ein all- gemeingültiges Ethos im Herzen eines Menschen außerhalb des Jhwh-Bundes seine prägende Gestalt und wer oder was zieht ihn für sein moralisches Ver- halten im Einzelfall zur Rechenschaft?

2. Die Suche nach dem Willen Gottes für alle Menschen in der frühjüdischen Auslegung des Alten Testaments

2.1 Zielrichtung und Inhalt der Noachidischen Gebote

Der emeritierte Baseler Ethiker Georg Huntemann bringt Römer 2,14 in direk- ten Zusammenhang mit der rabbinischen Tradition sogenannter »Noachidi- scher Gebote«.29 Dieses Stichwort umschreibt die Suche nach Geboten, welche den Willen Gottes für Gottes Volk und Heiden gleichermaßen zum Ausdruck bringen.30 Man kann sie als »erweitertes Urrecht der Menschheit« umschrei-

Härle, Ethik, S. 127.
Georg Huntemann,
Biblisches Ethos im Zeitalter der Moralrevolution, Neuhausen/Stuttgart: Hänssler, 1995, S. 68-72, 94, 144f, 526. Zur Schreibweise vgl. alternativ »Noachitische Gebo- te« in der Theologischen Realenzyklopädie, veraltet »Noachische Gebote«, etwa im Kommen- tar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von Hermann Strack und Paul Biller- beck.
Auch Sem ist ein Nachkomme Noahs. Vgl. die Grundregeln in Traktat
Sanhedrin 59a: »Es gibt nichts, was den Jisraéliten erlaubt und den Nichtjuden verboten wäre«, Lazarus Gold- schmidt, Der babylonische Talmud, Nachdruck (1. Auflage 1930-1936), Frankfurt: Jüdischer Verlag, 1996, Bd. 8, S. 698.

Noachidische Gebote

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ben, und trotz mancher Anfragen im Sinne eines Naturrechts deuten.31 Hinter dem Nachdenken über diese Gebote lassen sich drei Fragestellungen erken- nen:32

  1. (1)  Was muss ein Nichtjude beachten, damit er an dem Heil Israel teilhaben kann? (»soteriologische« Dimension)33

  2. (2)  Was ist notwendig, damit eine menschliche Gesellschaft funktionieren kann? (naturrechtliche Dimension)

  3. (3)  Welchen Gehorsam ist die Menschheit dem Gott Israels gegenüber schuldig? (theologische Dimension)

Locus classicus der Noachidischen Gebote ist eine anonyme Tradition der To- sefta, Traktat Aboda Zara 8,4.6, etwa aus der ersten Hälfte des 2. Jh. n.Chr.: »Sieben Gebote wurden den Kindern Noahs befohlen, u. zwar betreffs der Rechtspflege, des Götzendienstes, der Gotteslästerung, der Unzucht, des Blut-

34 vergießens, des Raubes ... u. des Gliedes von einem lebendigen Tier«. Aus-

führlicher diskutiert wird die Frage im babylonischen Talmud, Traktat San- hedrin 56a-57a:

Die Rabbanan lehrten: Sieben Gesetze wurden den Noahiden auferlegt: die Rechtspflege, [das Verbot der] Gotteslästerung, des Götzendienstes, der Un- zucht, des Blutvergießens, des Raubes und [des Genusses] eines Gliedes von einem lebenden Tier.

31

Georg Strecker, »Noachidische Gebote«, in: Kurt Galling, Hg., Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Band 4, 3. Auflage, Tü- bingen: Mohr, 1960, Sp. 1500f, hier Sp. 1501, lehnt den Vergleich mit einer »profanen Natur- rechtstheorie« ab. Irina Wandrey in der 4. Auflage dagegen kann ganz unbelastet formulie- ren: »Die n.G. sind als Ausdruck des Naturrechts zu verstehen«, Artikel »Noachidische Gebo- te«, in: Hans Dieter Betz, Hg., Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Band 6, 4. Auflage, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, Sp. 348f, hier Sp. 348. Müller, Tora, S. 241 führt die Verbindung von Noachidischen Geboten und Naturrechtsdenken auf die Aufklärung zurück (Grotius, Toland, Reimarius). Nach dem zweiten Weltkrieg nimmt Charles Harold Dodd, New Testament Studies, Manchester: Univer- sity Press, 1967, S. 129-142, hier S. 139, diesen Faden wieder auf: »The doctrine of the Noa- chian precepts is the Jewish equivalent for the Stoic doctrine of the Law of Nature«, zitiert und kritisch diskutiert in Müller, Tora, S. 238.

In Anlehnung an David Flusser, »Noachitische Gebote I. Judentum«, in: Gerhard Müller, Hg., Theologische Realenzyklopädie. Band XXIV, Berlin: De Gruyter, 1994, S. 582-585, hier S. 583. Auf diese »soteriologische« Dimension und den Zusammenhang zwischen den Geboten und der Frage, ob ein Heide gerettet werden kann, verweist Bockmuehl, Jewish Law, S. 158f un- ter Hinweis auf die Tosefta zum Traktat Sanhedrin 13.2.

Zitiert nach der Übersetzung in Paul Billerbeck, Die Briefe des Neuen Testaments und die Of- fenbarung Johannis erläutert aus Talmud und Midrasch, 8. Auflage (1. Auflage 1926), Kom- mentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Band 3. München: Beck, 1985, S. 37f. Zur Einordnung vgl. Bockmuehl, Jewish Law, S. 159.

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R. Hananja b. Gamal[iél] sagt, auch das Blut von einem lebenden Tier [sei ihnen verboten worden].

  • ▪  R. Hidqua sagt, auch die Kastration,

  • ▪  R. Šimón sagt, auch die Zauberei.

  • ▪  R. Jose sagt, alles, wovon im Abschnitte von der Zauberei gesprochen

wird, sei den Noahiden verboten: Es soll sich unter euch niemand finden, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen läßt, niemand, der Wahrsagerei oder Zeichendeuterei oder geheime Künste oder Zaube- rei treibt, auch niemand, der Bannungen vornimmt oder einen Totenbe- schwörer oder einen Wahrsagegeist befragt oder sich an die Toten wen- det [Dt 18,10-12]; und ohne Warnung gibt es ja keine Strafe.

R. Eleásar sagt, auch die Mischung [vgl. Lev 19,19]; die Noahiden dürfen Gemischtes tragen und Gemischtes sähen, verboten ist ihnen nur die Kreuzung von Tieren und das Propfen von Bäumen.

Woher dies? R. Johanan erwiederte: Die Schrift sagt: und Gott, der Herr, gebot dem Menschen also: Von allen Bäumen des Gartens kannst du essen [Gen 2,16].

  1. Gebot, dies deutet auf die Rechtspflege, wie es heißt: denn ich habe ihn er-

    koren, damit er gebiete seinen Kindern &c [Gen 18,19].

  2. Der Herr, dies deutet auf die Lästerung des Gottesnamens, denn so heißt

    es: wer den Namen des Herrn lästert, soll getötet werden [Lev 24,16].

  3. Gott, dies deutet auf den Götzendienst, denn es heißt: du sollst keinen an-

    deren Gott haben [Ex 20,3].

  4. Dem Menschen, dies deutet auf das Blutvergießen, denn es heißt: wer

    Menschenblut vergießt &c [Gen 9,6].

  5. Also, dies deutet auf die Unzucht hin, denn es heißt: also: wenn einer sein

    Weib entläßt und sie von ihm fortgeht und einen anderen heiratet

[Jer 3,1].
...6. Von allen Bäumen des Gartens, aber keinen Raub;
7.
kannst du essen, nicht aber ein Glied von einem lebenden Tier.

In der Schule Menašes wurde nämlich gelehrt: Sieben Gesetze wurden den

Noahiden auferlegt. [das Verbot] des Götzendienstes, der Unzucht, des Blut- vergießens, des Raubes, des Genusses eines Gliedes von einem lebenden Tie- re, der Kastration und der Mischung.
1. R. Jehuda sagt, dem ersten Menschen sein nur der Götzendienst verboten

worden, denn es heißt: da gebot Gott, der Herr, dem Menschen [Gen 2,16].

  1. R. Jehuda b. Bethera sagt, auch die Gotteslästerung;

  2. andere sagen, auch die Rechtspflege [sei ihm geboten worden]. ...

Verwendet der Autor aus der Schule Menašes [das Wort] gebot zur For- schung, so sollten auch jene [nämlich Gotteslästerung und Rechtspflege] ein- begriffen sein, und verwendet er es nicht zur Forschung, woher weiß er es von diesen!? Tatsächlich verwendet er es nicht zur Forschung, bezüglich dieser aber sind besondere Schriftverse vorhanden.

Götzendienst und Unzucht, denn es heißt, die Erde aber war verderbt vor dem Angesichte Gottes [Gen 6,11], und in der Schule R. Jišmáéls wurde ge- lehrt, daß überall, wo von einem Verderb gesprochen wird, Unzucht und Götzendienst zu verstehen sei.

Noachidische Gebote

335

Siegbert Riecker

1. Unzucht, denn es heißt: denn alles Fleisch hatte seinen Wandel verderbt [Gen 6,12];

2. Götzendienst, denn es heißt: daß ihr nicht verderbt handelt und verfertigt &c [Dt 4,16]. ...

  1. Blutvergießen, denn es heißt: wer Menschenblut vergießt &c [Gen 9,6]. ...

  2. Raub, denn es heißt: wie das grüne Kraut gebe ich euch alles [Gen 9,3], und hierzu sagt R. Levi: wie das grüne Kraut, nicht aber wie das Gartenkraut

[d.h. nur das herrenlose, nicht aber fremdes Eigentum] ...
5. Der Genuß eines Gliedes von einem lebenden Tiere, denn es heißt: nur Fleisch, das noch sein Leben, sein Blut, in sich hat, dürft ihr nicht essen

[Gen 9,4]. ...
6. Die Kastration, denn es heißt: regt euch auf der Erde und mehret euch auf

ihr [Gen 9,7]. ...
7. Die Mischung, denn es heißt: von den Vögeln, je nach ihrer Art

[Gen 6,20].35

Es scheint also in talmudischer Zeit nie eine abschließende Liste von Geboten gegeben zu haben.36 Die ursprüngliche Liste wird im Namen tannaitischer Rabbinen erweitert um die Verbote des Trinkens von Blut von einem lebendi- gen Tier, Kastration, Zauberei oder Okkultismus allgemein, oder auch die Kreuzung von Tieren und das Pfropfen. Die aufgeführten Rabbinen Chananja ben Gamaliel, Chidqa, Schimon, Jose und Eleaser sind Schüler von Rabbi Akiba ben Joseph (um 50-135 n.Chr.), was den Heidelberger Theologen Klaus Müller schließen lässt, dass die Akibaschule der früheste Tradentenkreis der sieben Gebote ist.

In der Schule des Manasse (Rabbi Manasse, um 300 n.Chr.) findet sich eine alternative Liste von sieben Geboten mit alternativer Begründung. Andere be- grenzen die Liste auf ein Gebot (Verbot von Götzendienst), oder erweitern sie um das Verbot von Gotteslästerung oder das Gebot von Rechtspflege.37

Goldschmidt, Talmud, Bd. 8, S. 687-689, Hervorhebungen durch den Autor, Einrückungen und Ordinalzahlen hinzugefügt. Es folgt eine Diskussion um die Frage, wann ein Noachide hinzurichten ist (Traktat Sanhedrin 57). David Novak, Natural Law in Judaism, Cambridge: University Press, 1998, S. 150, weist jedoch zurecht darauf in, dass diese Diskussion theo- retischer Art ist: »Unlike the Romans who created the real, practical institution of ius genti- um, the Rabbis who formulated the doctrine of Noahide law did not have any such power over any group of non-Jews.«

Vgl. zu folgendem Bockmuehl, Jewish Law, S. 160 und Billerbeck, Briefe, S. 36-38, welcher außer den hier genannten weitere parallele Belege zu den Noachidischen Geboten anführt: Genesis Rabba 34 zu Genesis 8,17, Midrasch Psalmen 1 §10, und Midrasch Sprüche 31,29. Müller, Tora, S. 48. Auf S. 30 geht er auf eine Lesart der Handschrift Parma der Seder Olam Rabba (nach 200 n.Chr.) ein, in der es zu Ex 15,25b heißt: »Dort wurden Israel zehn Gebote gegeben; auf sieben von ihnen wurden bereits die Nachkommen Noahs verpflichtet; für Is- rael kamen in Mara der Schabbat, die Rechtsprechung und die Ehrung des Vaters und der Mutter hinzu« (Übersetzung nach Klaus Müller). Der babylonische Talmud Traktat Sanhed- rin 56b nimmt diese Tradition in einem hier nicht wiedergegebenen Abschnitt auf und dis- kutiert die Frage, ob auch den Noachiden das Gebot der Rechtspflege gegeben ist.

35

36

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2.2 Drei, fünf, sechs, sieben, acht, neun oder dreißig Gebote?

Der jüdische Religionswissenschaftler David Flusser38 führt die Liste auf einen Grundbestand von ursprünglich drei Geboten zurück, welche die jüdischen »Kardinalsünden« laut Entscheid einer Versammlung in Lydda (um 120 n.Chr.) umreißen:

1. Götzendienst, 2. Unzucht,
3. Blutvergießen.

Diese Liste sei dann um zwei weitere auf fünf Grundgebote erweitert worden, die zum Erhalt der Menschheit unabdingbar sind:

4. Raub,
5. Gotteslästerung.

Die Sifra zu Levitikus 18,4, deren Grundbestand möglicherweise bis in die 2. Hälfte des 3. Jh. n.Chr. zurückgeht, beschreibt:39

»Meine Rechte« Lv 18,4, das sind die Worte in der Tora, die, wenn sie nicht geschrieben wären, füglich geschrieben werden müßten, wie zB betreffs des Raubes, der Unzucht, des Götzendienstes, der Gotteslästerung u. des Blutver- gießens (Mordes); wenn diese nicht geschrieben wären, so müßten sie füg- lich geschrieben werden (weil sie für das Bestehen der Menschheit unbedingt nötig sind).

Interessanterweise scheinen diese Grundgebote bereits der christlichen Dida- che bekannt zu sein, welche wohl Ende des 1. bis Anfang des 2. Jh. n.Chr. ent- standen ist. Kapitel 3 warnt:

1 Mein Kind, flieh vor jeglichem Bösen und vor allem, was ihm ähnlich ist. 2 Sei nicht zornig; der Zorn nämlich führt zum Mord. Sei auch kein Fanatiker, nicht streitsüchtig, nicht zornmütig; denn aus diesem allen entstehen Morde.

3 Mein Kind, sei nicht lüstern; die Lüsternheit nämlich führt zur Hurerei. Sei auch kein Zotenreißer und kein Voyeur; aus diesem allem nämlich entstehen Ehebrüche.

4 Mein Kind, sein kein Vogelschauer, weil das zum Götzendienst führt; auch kein Beschwörer, auch kein Sterndeuter, auch kein Sühnezauberer; hab auch

Noachidische Gebote

38

39

Flusser, Noachitische Gebote, S. 583. Hermann L. Strack und Paul Billerbeck, Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch. 9. Auflage (1. Auflage 1926), München: Beck, 1986, S. 21, verweisen auf den babylonischen Talmud Traktat Sanhedrin 74a, auf den palästinischen Talmud Traktat Schebiith 4,35a,42 und Sanhedrin 3,21b,10. Vgl. dazu Müller, Tora, S. 34-59, mit Verweis auf alternative Entstehungstheorien.

Deutsche Übersetzung nach Billerbeck, Schriften, S. 36.

337

Siegbert Riecker

nicht die Absicht, das zu sehen [und zu hören]. Aus diesem allem nämlich entsteht Götzendienst.

5 Mein Kind, sei kein Lügner, weil das Lügen zum Diebstahl führt; auch nicht geldgierig oder prahlerisch. Aus diesem allen nämlich entstehen Diebstähle.

6 Mein Kind, sei keiner, der (gegen Gott) murrt, weil das zur Lästerung führt; (sei) auch nicht selbstgefällig oder böswillig. Aus diesem allem nämlich ent- stehen Lästerungen.40

Spätere Midraschim aus dem 3. Jh. n.Chr. deuten das Wachstum der Liste von Noachidischen Geboten historisch. Auf Grundlage von Genesis 2,16 werden sechs adamitische Gebote erkannt, wie in Deuteronomium Rabba zu Deutero- nomium 3,41 formuliert wird:

Wie viele Dinge sind dem ersten Menschen befohlen worden (nicht zu thun)? Die Weisen haben so gelehrt: Sechs Dinge sind dem ersten Menschen befoh- len worden. (Er soll sich hüten), 1) vor Götzendienst, 2) vor Entweihung des göttlichen Namens, 3) die Einsetzung von Richtern betreffend, 4) vor Blut- vergiessen, 5) vor Unzucht und 6) vor Raub, und alle diese sind nach Rabbi in dem Verse enthalten Gen. 2, 16: »Und der Ewige gebot dem Menschen« u. s. w. ויצו geht auf den Götzendienst vgl. Hos. 5, 11: »Denn willig folgt es Geboten geht auf Entweihung des göttlichen Namens vgl. Lev. 24, 16: »Wer יהוה «;)צו( den Namen des Ewigen lästert, der soll getödtet [sic!] werden;« אלהים geht auf die Richter vgl. Ex. 22, 9: »Bis zu dem Richter (אלהים) die Sache beider kommt;« על האדם geht auf das Verbot des Blutvergiessens vgl. Gen. 9,6: »Wer Menschenblut vergiesst;« לאמר geht auf das Verbot der Unzucht vgl. Jerem. מכל עץ הגן אכל תאכל «;Zu sagen: wenn ein Mann sein Weib entlässt» :3,1 von allen Bäumen des Gartens sollst du essen, aber nicht vom Geraubten, somit verbietet er ihm den Raub.41

Hier variiert die Reihenfolge der zu den einzelnen Begriffen aus Genesis 2,16 herangezogenen Belegstellen, wie ein Vergleich mit dem Traktat Sanhedrin 56b deutlich macht:

40

41

Andreas Lindemann und Henning Paulsen, Hg., Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker, Tübingen: Mohr, 1992, S. 8f, zur Datierung siehe S. 1f.
August Wünsche, Hg.,
Der Midrasch Debarim Rabba, Leipzig: Otto Schulze, 1882, S. 33.

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Gen 2,16

ויצו

יהוה

אלהים

על האדם

לאמר

מכל עץ הגן אכל תאכל

bSanh 56b

Rechtspflege (Gen 18,19)

Gotteslästerung (Lev 24,16)

Götzendienst (Ex 20,3)

Blutvergießen (Gen 9,6)

Unzucht (Jer 3,1)

Raub GliedvonTier

DtnR42

Götzendienst (Hos 5,11)

Gotteslästerung (Lev 24,16)

Rechtspflege (Ex 22,8[.27])

Blutvergießen (Gen 9,6)

Unzucht (Jer 3,1[.6])

Raub -

Noachidische Gebote

Das siebte Gebot (Verbot des Genusses eines Gliedes von einem lebenden Tier) wird nach der Flut an Noah gegeben. Für Adam ist dieses Gebot belanglos, da ihm nach rabbinischer Auffassung noch jeder Genuss von Fleisch verwehrt ist.43 Abraham erhält das achte Gebot der Beschneidung, Isaak den Hinweis, dass dies am achten Tag zu geschehen habe, Jakob das Verbot, das Muskel- stück auf dem Gelenk der Hüfte zu essen, und Juda das Gebot der Levi- ratsehe.44 In dem Talmud Traktat Chulin 92a wird die Anzahl der Noachidi- schen Gebote mit 30 bestimmt, allerdings ohne sie einzeln aufzuführen.45 Isra- el am Sinai empfängt schließlich alle Gebote. Im Folgenden der Aufbau nach

Vgl. in knapperer Form mit Verweis auf Ex 22,27 statt 22,9 und Jer 3,6 statt 3,1 in Genesis Rabba 16 zu Genesis 2,16, ders., Hg., Der Midrasch Bereschit Rabba, Leipzig: Otto Schulze, 1881, S. 72, ebenso in Hoheslied Rabba zu Hohelied 1,2, ders., Hg., Der Midrasch Schir Ha- Schirim, Leipzig: Otto Schulze, 1880, S. 15 und Pesiqta de Rab Kahana 12, ders, Hg., Pesikta des Rab Kahana, Leipzig: Otto Schulze, 1885, S. 128.

Billerbeck, Briefe, S. 285 verweist auf das Talmudtraktat Sanhedrin 59b. Dass dem Menschen der Genuss von Fleisch tatsächlich erst mit dem Noahbund zugestanden wird, lässt sich auch anhand struktureller Beobachtungen am Bundessegen bestätigen. Der hier zitierte Ab- schnitt aus Genesis 9,3b lässt sich als »Segensgabe« im Zentrum des Segens Genesis 9,1-7 in- terpretieren, vgl. Siegbert Riecker, Segen, Einschränkung und Verheißung im Bund Gottes mit Noah, unveröffentlichte Licentiaats-Thesis, Leuven: Evangelische Theologische Faculteit, 1998, S. 85, 87.

Dass mit der Erwählung Abrahams ein Unterschied zwischen den Patriarchen und nichter- wählten Nachkommen Noahs entsteht, spielt hier keine vordergründige Rolle. Alle vor dem Sinai gegebenen Gebote sind nach rabbinischer Auffassung den »Noachiden« gegeben, vgl. den Verweis auf das Talmud Traktat Sanhedrin 59a-b in Bockmuehl, Jewish Law, S. 152, Fn. 21.

Vgl. Müller, Tora, S. 133-6, der zwei mittelalterliche Dreißigerlisten von dem Gaon von Sura, Rav Schmuel ben Chofni (um 1000 n.Chr.) und von dem italienischen Rabbiner Menachem Azarja aus Fano (Ende 16. Jh. n.Chr.) zusammenträgt. Belegstellen des ersteren sind Gen 2,16.24; 6,11; 8,17.20; 9,3.4.5.6.22; 12,13; 20,3.7; 21,23; 34,12; Dt 18,10.11.

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Siegbert Riecker

dem Text der Pesiqta de Rab Kahana, Piska 12 (zum Wochenfest), möglicher- weise 5. Jh. n.Chr.:46

  • ▪  Noach ist noch ein Verbot gegeben worden, nämlich der Genuss eines Gliedes von einem lebendigen Thiere s. Gen 9,4: »Nur das Fleisch in seiner Seele, sein Blut sollt ihr nicht essen.«

  • ▪  Abraham ist das Gebot der Beschneidung gegeben worden s. das. 17, 9: »Und du sollst meinen Bund bewahren.«

  • ▪  Jizchak ist nach acht Tagen geweiht worden s. das. 21, 4: »Und Abraham beschnitt Jizchak, seinen Sohn, da er acht Tage alt war.«

  • ▪  Jacob ist die Spannader verboten worden, s. das. 32, 33: »Darum essen die Kinder Israels nicht die Spannader.«

  • ▪  Jehuda ist die Leviratsehe zur Vorschrift gemacht worden s. das. 38, 8: »Und es sprach Jehuda zu Onan: Wohne dem Weibe deines Bruders bei und erfülle ihr die Schwagerpflicht.«

  • ▪  Aber am Sinai sind 613 Gebote gegeben worden, 248 Gebote und 354 Verbote; 248 Gebote, so viele wie Glieder am menschlichen Leibe sind (d. i. sie entsprechen den Gliedern am Menschen); jedes Glied spricht zum Menschen: Ich bitte dich, übe mit mir dieses Gebot aus. Die 365 Verbote entsprechen den Tagen des Sonnenjahres; jeder Tag spricht zum Menschen: Ich bitte dich, begehe an mir nicht diese Sünde.

    2.3 Das Buch der Jubiläen und weitere Hinweise

    Der vielleicht früheste relativ sicher datierbare Hinweis auf Gebote, welche Noah seine Enkel lehrt, findet sich im Buch der Jubiläen, etwa aus der Zeit um 150 v.Chr., Kapitel 7:47

    20 Und im 28. Jubiläum begann Noah, zu gebieten den Kindern seiner Kinder die Ordnungen und alles Gebot, das er kannte. Und er verordnete und be- zeugte über seine Kinder,

  1. daß sie Gerechtigkeit täten

  2. und daß sie die Scham ihres Fleisches bedeckten

46

47

Deutsche Übersetzung nach Wünsche, Pesikta des Rab Kahana, S. 128, Einrückungen hinzu- gefügt. Vgl. Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch. 8. Auflage (1. Auflage 1982), München: Beck, 1992, S. 290f zur umstrittenen Datierung. Vgl. die kürzere Fassung der Darstellung in Hoheslied Rabba zu Hohelied 1,2, vgl. Wünsche, Schir Ha-Schirim, S. 15. Vgl. die Zählung in Exodus Rabba 30 zu Exodus 22,1: »dem Adam gab er sechs Gebote, dem Noach fügte er noch eins hinzu, dem Abraham acht und Jacob neun, aber Israel hat er alle gegeben«, August Wünsche, Hg., Der Midrasch Schemot Rabba, Leipzig: Otto Schulze, 1882, S. 219.

Deutsche Übersetzung nach Klaus Berger, Hg., Das Buch der Jubiläen, Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Band II. Unterweisung in erzählender Form. Lieferung 3, Gü- tersloh: Gütersloher, 1981, S. 364-7, Ordinalzahlen hinzugefügt. Die hier vorgenommene Zählung und Beobachtung zur Übereinstimmung mit rabbinischen Listen folgt Jack P. Lewis, A Study of the Interpretation of Noah and the Flood in Jewish and Christian Literature, Leiden: Brill, 1968, S. 188.

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  1. und daß sie den segneten, der sie geschaffen,

  2. und daß sie Vater und Mutter ehrten

  3. und daß sie ein jeder den Nächsten liebten

  4. u...nd daß er bewahre seine Seele vor Unzucht und Unreinheit und vor aller

Ungerechtigkeit. 21 Denn wegen dieser drei war die Sintflut über der Erde.

7. 27 ... Jetzt aber fürchte ich wegen euch, daß ihr, nachdem ich gestorben bin, Menschenblut auf der Erde vergießen werdet und daß auch ihr ver- tilgt werdet vom Antlitz der Erde. 28 Denn jeder, der Menschenblut ver- gießt,

den sie alle von der Erde. ... Kein Blut soll an euch gesehen werden von allem Blut, das in allen Tagen sein wird, da ihr Tiere schlachten werdet und alles Vieh und was da fliegt auf der Erde.

8. und jeder, der Blut ißt, welches von jeglichem Fleisch ist, vernichtet wer- 30

9. Und wirkt ein gutes Werk für eure Seelen durch Bedecken dessen, was verschüttet wurde auf dem Antlitz der Erde! ...

10. 35 Und siehe, ihr werdet hingehen, und ihr werdet für euch Städte bauen und pflanzt in ihnen jede Pflanze, die auf Erden, und jeden Baum, der Frucht trägt. 36 Drei Jahre lang wird es Frucht geben von allem Eßbaren, die nicht gepflückt werden wird.

11. Und im vierten Jahr wird geheiligt werden seine Frucht. Und sie werden darbringen die erste Frucht, die angenommen werden soll vor dem höchsten Herrn, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und von allem. So sollen sie darbringen reichlich das Erste von Wein und Öl als erste Frucht auf dem Altar des Herrn, die angenommen wird. Und was übrigge- lassen ist, sollen die Diener des Herrn essen vor dem Altar, der ange- nommen wird.

12. 37 Und im fünften Jahr macht eine Erlassung davon, damit ihr es erlaßt in Gerechtigkeit, und ihr werdet gerecht sein!

Trotz offensichtlicher Unterschiede findet sich eine Übereinstimmung der Ge- bote 1, 3, 6, 7 und 8 mit den rabbinischen Listen.

Aus der jüdischen apokryphen und pseudepigraphischen Literatur sind weitere Listen von Geboten, Ermahnungen und Vorwürfen an Heiden bekannt, die allerdings das Ausmaß der bisher aufgeführten Listen weit übersteigen. Das Buch der Weisheit Salomos, etwa 50 v.Chr. entstanden, nennt als Folge heidnischen Götzendienstes unter anderem:

... Blutvergießen, Mord, Diebstahl, Betrug, Schändung, Untreue, Streit, Mein- eid, Beunruhigung des Guten, 26 Undank, Befleckung der Seelen, widernatür- liche Unzucht, Zerrüttung der Ehen, Ehebruch und Ausschweifungen
(Weish 14,25f).

Die Bücher 3-5 der Sibyllinischen Orakel, etwa aus der Zeit 150 v.Chr. bis 300 n.Chr., sind voll von moralischen Vorwürfen gegen Heiden. Die 230 Verse des Pseudo-Phokylides, entstanden etwa zwischen 50 v.Chr. und 50 n.Chr., las-

Noachidische Gebote

341

Siegbert Riecker

sen sich als allgemeingültige Ermahnungen deuten, auch wenn einige biblische Gebote eingearbeitet worden sind, die sich ursprünglich ausdrücklich an das Volk Israel richten. Ähnlich klingt eine Reihe von Ermahnungen in dem Testa- menten der zwölf Patriarchen, welche sich allerdings nie ausdrücklich an Hei- den richten.48

2.4 Die Rolle des neutestamentlichen Aposteldekrets

Das neutestamentliche Aposteldekret muss nicht zwangsläufig in Zusammen- hang mit den Noachidischen Geboten stehen. Hier werden die Heidenchristen um Enthaltung von Götzendienst, Unzucht, Ersticktem und Blut gebeten (Apg 15,20.29; 21,25). Der westliche Text (D) lässt das Erstickte weg und fügt eine negative Form der goldenen Regel hinzu:49

Vers Alexandrinische Texttradition (א, B)

15,20 durch Götzen und von Unzucht

und vom Erstickten und vom Blut

15,29 vom Götzenopfer und vom Blut

und vom Erstickten

Westliche Texttradition (D)

durch Götzen und von Unzucht

und vom Blut,
und was sie nicht wollen, das ihnen selbst geschehe, ihr anderen nicht tut.

vom Götzenopfer und vom Blut

48

49

Vgl. zur Auswertung dieser Quellen Bockmuehl, Jewish Law, S. 155-158. Beispiele für ur- sprünglich an Israel gerichtete Gebote in Pseudo-Phokylides sind der Schutz des Fremden (V. 39f), sowie der Vogelmutter (V. 84f; vgl. Dt 22,6f). Bockmuehl und Lewis, Noah and the Flood, S. 188f verweisen darüber hinaus unter anderem auf Philo von Alexandria (ca. 15 v.Chr.-40 n.Chr.), Quaestines in Genesim 2,59f, Apologia pro Juaeis und Legatio ad Gajum, sowie Flavius Josephus (ca. 37-100 n.Chr.), Contra Apionem 2,16-30, deren Beiträge zwar das Thema allgemeingültiger Ethik betreffen, die jedoch nur entfernt mit den Noachidischen Geboten in Verbindung gebracht werden können.

Vgl. zu folgendem Roman Heiligenthal, »Noachitische Gebote II. Neues Testament«, in: Gerhard Müller, Hg., Theologische Realenzyklopädie. Band XXIV, Berlin: De Gruyter, 1994, S. 585-7. Vgl. zur textkritischen Diskussion auch Bruce M. Metzger, A Textual Commentary on The Greek New Testament. 2. Auflage (1. Auflage 1971), Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1994, S. 379-83. Müller, Tora, S. 137-199 verweist darüber hinaus auf Lasterkataloge und ähnliche Texte in Gal 5,19-21; 1.Kor 5,10f; 6,9f; Röm 1,24-32; 1.Tim 1,9f; Tit 3,3; Offb 9,20f; 21,8; 22,15, um eine besondere Bedeutung der drei jüdischen »Kardinalsünden« für die frü- he christliche Gemeinde nachzuweisen. F. F. Bruce, The Acts of the Apostles. The Greek Text with Introduction and Commentary, 3. Auflage (1. Auflage 1951), Grand Rapids: Eerdmans, 1990, S. 344 zitiert in Bezug auf Apg 15,21 die treffende Formulierung von Charles Kingsley Barrett, Freedom and Obligation. A Study in the Epistle to the Galations, London: SPCK, 1985, S. 99: »We do not need to preach Moses, but we must bear in mind the fact that there are those who do.«

342

Noachidische Gebote

und von Unzucht

21,25 vor dem Götzenopfer, vor Blut,

vor Ersticktem und vor Unzucht

und von Unzucht,
und was ihr nicht wollt, das euch selbst ge- schehe, einem anderen nicht zu tun.

vor dem Götzenopfer, vor Blut

und vor Unzucht

Gibt man wie allgemein üblich an dieser Stelle der alexandrinischen Fassung den Vorrang, so scheint es hier weniger um Empfehlungen für Heiden es sind nach Ansicht der Apostel ja Gläubige im Sinne eines Naturrechts zu gehen (letztlich eine soteriologische Funktion), als vielmehr um die »Annahme eines Minimums von Reinheitsvorschiften«,50 welche den Judenchristen ein Zusam- menleben mit den Heidenchristen ermöglicht (soziale Funktion). Das Vorbild für diesen Kompromiss sind weniger die Noachidischen Gebote als vielmehr die Gebote zum Umgang mit Fremden (ֵגּר ) im Alten Testament. Genannt wird in der Begründung nicht Noah oder Adam, sondern Mose (Apg 15,21). Zudem gibt es keinen Hinweis darauf, dass das rabbinische Konzept Noachidischer Gebote bereits zur Abfassungszeit der Apostelgeschichte festliegt. Die Reduk- tion der Anweisungen auf eine Form ähnlich der drei jüdischen Kardinalsün- den durch den Westlichen Text lässt sich als »Ethisierung« deuten in einer Zeit, in welcher das Problem des Zusammenlebens zwischen Christen und Ju- den in den Hintergrund tritt und gleichzeitig das apologetische Interesse zu- nimmt, die von Christen geforderten Verhaltensweisen den Heiden gegenüber als vermittelbar zu erweisen.

2.5 Ausblick und Zusammenschau der Listen Noachidischer Gebote

Den Einstieg in die Diskussion um Noachidische Gebote in Traktat Sanhedrin 56a bildet die Auslegung von Levitikus 24,14f: »Die Rabbanan lehrten: Jeder, wozu heißt es: jeder Mann? Dies schließt die Nichtjuden ein, daß nämlich auch ihnen, gleich den Jisraéliten, die Gotteslästerung verboten wurde«.51 Im Kon- text geht es um den Fall der Gotteslästerung durch den Sohn einer israeliti- schen Frau und eines ägyptischen Mannes (V.10f). Ein Freispruch aufgrund seiner »staatsbürgerlichen Rechte« als Ägypter wäre nicht undenkbar gewe- sen (vgl. Apg 16,37-39; 22,25-29; 23,27). Doch die folgenden Verse stellen den bei dem Volk Israel lebenden Fremden (ֵגּר ) auf dieselbe Stufe wie den Einhei-

Heiligenthal, »Noachitische Gebote«, S. 586. Goldschmidt, Talmud, Bd. 8, S. 686.

50 51

343

Siegbert Riecker

mischen: »Ob Fremdling oder Einheimischer, wer den Namen lästert, soll ster- ben« (V.16b).

Das Bewusstsein für die Unterscheidung zwischen Israeliten und Nicht- Israeliten als Gegenstand moralischer Aussagen des Alten Testaments ist auch in der Hermeneutik des Neuen Testaments ersichtlich. So betreffen die in Rö- mer 3,10-18 genannten Vorwürfe »Juden wie Griechen« (V.9, vgl. »alle Welt«, V.19), sind aber primär an die Juden als Leser des Gesetzes gerichtet (V.19). Habakuk 2,4 und Joel 3,5 drücken für Paulus allgemeingültige Prinzipien aus, ohne nationale Beschränkung (Röm 1,16f; 10,12f). Letztlich entscheiden die Hinweise im ursprünglichen Kontext darüber, ob eine allgemein formulierte Aussage ein allgemeingültiges Prinzip darstellt oder sich lediglich an das Volk Gottes richtet.

Auch in den rabbinischen Quellen ist teilweise ein Bemühen darum er- kennbar, die einzelnen Noachidischen Gebote aus Texten heraus zu begrün- den, welche in einem allgemeingültigen Kontext gegeben werden. Ursprüngli- cher Anknüpfungspunkt ist die erste wörtlich als Gebot (ַו ְי ַצו »und er gebot«) bezeichnete Anweisung Gottes an den Menschen in Genesis 2,16. Die Schule Manasses bevorzugt darüber hinaus Belegstellen aus dem Flutbericht Genesis 6-9. Bemerkenswert ist neben den bereits oben angesprochenen Verweisen auf Levitikus 24 auch der Hinweis auf Deuteronomium 18,10-12, denn die dort genannten Praktiken werden als תוֹעבֺת ַהגּוִֹים »Gräuel der Nationen« (Ka- naans) bezeichnet (V. 9).

Die Übersicht auf der nächsten Seite verdeutlicht, dass die rabbinische Tra- dition zwar einerseits einen Grundbestand immer wieder aufgeführter Gebote kennt. Andererseits erscheint die Liste moralischer Ansprüche an die Heiden prinzipiell offen, was die teilweise ausufernden Ausführungen in einigen der oben aufgeführten Werke zur Genüge belegen.

Eine umfangreiche alttestamentliche Untersuchung nach den Prinzipien moderner Hermeneutik könnte in der Frage nach Inhalt und Zugänglichkeit (Härle) von Gottes Willen für Menschen, die nicht zu seinem Volk gehören, zu tieferen Einsichten gelangen.

344

Noachidische Gebote

Lehre der Rabbinen bSanh 56a-b52

Adamitische Gebote: 1. Rechtspflege

»Grundgebote«
2. Gotteslästerung

»Kardinalsünden« 3. Götzendienst

4. Blutvergießen

5. Unzucht 6. Raub

Zusätzliches Gebot an Noah: 7. Glied von lebendem Tier

HANANJA:
8. Blut von lebendem Tier

HIDQUA:
9. Kastration

SCHIMON, JOSE: 10. Zauberei, u.a.

ELEASAR:
11. Mischung

Beleg53

Gen 18,19 (Ex 22,8.27)

Lev 24,16

Ex 20,3 (Hos 5,11)

Gen 9,6 Jer 3,1(.6)

(Gen 9,4)

Dt 18,10-12 Lev 19,19

Schule Manasses bSanh 56b-57a54

andere: Rechtspflege

JEHUDA B. BETH.: Gotteslästerung

JEHUDA (nur): 1. Götzendienst

3. Blutvergießen 2. Unzucht
4. Raub

5. Glied v. l. Tier

6. Kastration

7. Mischung

Beleg

Gen 2,16; 6,11;
Dt 4,16

Gen 9,6 Gen 6,11.12 Gen 9,3

Gen 9,4

Gen 9,7

Gen 6,20

Buch der Jubiläen

1. Rechtspflege
2. Scham bedecken

3. Gottesverehrung

4. Eltern ehren
5. Nächsten lieben 7. Blutvergießen 6. Unzucht

8. Blut von Tier

9. Blut bedecken

10. Erntebestim- mung

11. Erstlingsfrucht 12. Erlassjahr

52

53 54

Die hier gewählte Reihenfolge, welche das prominenteste der explizit in Genesis 9 genann- ten »Gebote« im Zentrum hat (vgl. daneben Gen 9,4 zu den Geboten 7 und 8), entspricht der Reihenfolge der Begründung mithilfe von Analogien zu den einzelnen Begriffen in Genesis 2,16 in Talmud Traktat Sanhedrin 56b. Die anfängliche Aufzählung hat »Unzucht« im Zent- rum. Die Kategorien »Adamitische Gebote«, »Grundgebote« und »Kardinalsünden« finden sich nicht in Sanhedrin 56a-b, sondern sind Flusser, Noachitische Gebote, S. 582f entlehnt.

In Klammern abweichende Belege aus parallel argumentierenden rabbinischen Quellen.
Die Liste der Schule Manasses beginnt mit »Götzendienst«, auf welches Rabbi Jehuda die »Noachidische Gebote« konzentrieren möchte. Die beiden darüber angeführten Gebote sind ergänzende Vorschläge verschiedener Rabbinen, ähnlich der Ergänzungen 8-11 in der Spal- te »Lehre der Rabbanan«.

345

Siegbert Riecker

3. Alttestamentliche Hinweise auf Inhalt und Zugänglichkeit eines allgemeinen Ethos

3.1 Vorbemerkungen zu Gegenstand, Umfang und Methode der Untersuchung

Wesentlich ist an dieser Stelle noch einmal die Rückfrage nach theoretisch möglichen Zugangsformen von Heiden zu einem allgemeinen Ethos, damit sich die theologischen Aussagen des Alten Testaments frei entfalten können und nicht in einer zu stark eingegrenzte Definition von »Naturrecht« oder »Noach- idischen Geboten« erstickt werden. Die folgende Unterscheidung55 kann Über- lappungen einzelner Kategorien nicht ausschließen:

  • Zunächst einmal besteht von Römer 2,15 her die Möglichkeit eines Rechtsempfindens im Menschen selbst, etwa im Herzen oder Gewissen.

  • Dann besteht die Möglichkeit, dass es moralische Werte gibt, welche sich aus allgemeinmenschlicher Erfahrung ergeben. Man muss mit Strukturen in dieser Welt rechnen, Dingen, »die einfach so sind«, was man daran erkennt, dass man sie als solche erlebt.

    • □  Zum einen kann der Mensch bestimmte moralische Schlüsse aus der ihn umgebenden Natur bzw. Schöpfung zu ziehen.

    • □  Alternativ dazu ist der Bereich der Geschichte mit einzuschließen, welcher sich in allgemein beobachtbare weltgeschichtliche Entwick- lungen und Prinzipien sowie allgemein erfahrene persönliche bio- graphische Beobachtungen unterteilt.

    • □  Des Weiteren mag es in der Gesellschaft unumstrittene Konventio- nen geben, welche dem Menschen als »natürlich« erscheinen.

  • Ferner besteht die Möglichkeit einer direkten Offenbarung Gottes an die Welt der Heiden, welche durch den Begriff des »Naturrechts« gewöhn- lich nicht abgedeckt ist.56 Die unversehrte Bewahrung der Tradition ei-

    Vgl. zu folgenden Kategorien die bei John Barton, »Natural Law and Poetic Justice in the Old Testament«, in: ders., Hg., Understanding Old Testament Ethics. Approaches and Explorations, Louisville: Westminster John Knox, 2003, S. 32-44, hier S. 33 zusammengetragenen Unter- scheidungen, welcher an ältere Veröffentlichungen von Friedrich Horst, »Naturrecht und Al- tes Testament«, Evangelische Theologie 10 (1950f), S. 253-273 und Henry S. Gehrman, »Na- tural Law and the Old Testament«, in: Jacob Martin Myers, Hg., Biblical Studies in Memory of H.C. Alleman, New York: Augustin, 1960, S. 109-122 anknüpft.

    Gerade hier greift jedoch die rabbinische Vorstellung Noachidischer Gebote, wie Klaus Mül- ler, Tora, S. 259 in seiner Kritik an Luther, »Unterrichtung«, S. 101 formuliert: »Demgegen- über lädt die halachisch-verbindliche jüdische Tradition die Völkerwelt ein, das Gotteswort

55

56

346

nes solchen Wissens bei allen Nationen wird alttestamentlich gesehen nach der Zerstreuung der Menschheit (Gen 11) immer unwahrscheinli- cher. Doch selbst wenn Gott einzelne Nicht-Israeliten anspricht, kann die darin enthaltene moralische Mahnung auf einen allgemeingültigen Kodex verweisen, welchen diese wissentlich oder unwissentlich verlet- zen.

Dies führt zuletzt zu der Möglichkeit allgemeiner ethischer Weisungen, welche dem Menschen nicht, zumindest nicht direkt, zugänglich ist.

Die hier vorgenommene Untersuchung arbeitet methodisch synchron und folgt der kanonischen Anordnung alttestamentlicher Bücher (vgl. Talmud Traktat Baba Bathra 14b). Aus Platzgründen kann nur auf einige Bereiche ei- nes alttestamentlichen Beitrags zu einer allgemeinen Ethik hingewiesen wer- den, ein Schwerpunkt soll im Bereich der Urgeschichte gesetzt werden.

3.2 Strukturelle Beobachtungen zu Schöpfungsmandaten in der Urgeschichte

Als Anfang, »Kopf« oder »Eingang« des Alten Testaments ist das Buch Genesis von nicht überschätzbarer theologischer Bedeutung.57 Die ersten elf Kapitel zeichnen sich dadurch aus, dass hier Gott als Gegenüber der gesamten Menschheit auftritt. Die Erwählung einer besonderen Familie bzw. Nation wird zwar bereits vorbereitet, tritt jedoch erst in Kapitel 12 in den Vorder- grund. Die Bedeutung von Genesis 2,16f als erste explizit als »Gebot« bezeich- nete Ordnung bestätigt sich in den Rückbezügen Genesis 3,11.17. Die weiteren Vorkommen des Verbs צוה »gebieten« (6,22; 7,5.9.16, jeweils im Rückbezug auf einfach »Gesagtes«) machen deutlich, dass alle direkten Anreden Gottes an den Menschen zu berücksichtigen sind. Zu unterscheiden sind diese von Selbstbeschlüssen Gottes58 sowie von Anmerkungen des Autors im Text (d.h. außerhalb wörtlicher Rede) über Wesen und Auftrag des Menschen.

an Mose vom hymel herab mit seinem universalen Gehalt mitzuhören und mitzutun bzw. mitzutun und mitzuhören«.
Hendrik Koorevaar,
A Structural Canonical Approach for a Theology of the Old Testament. Unveröffentlichtes Vorlesungsscript, Leuven: Evangelische Theologische Faculteit, 2005, S. 11f. Diesem Werk sind auch die Bezeichnungen »Priesterkanon«, »Prophetenkanon« und »Weisheitskanon« entnommen, S. 3, 10. Vgl. sein Beitrag »Methodiek voor een theologie van het Oude Testament« in dem noch zu veröffentlichenden Werk ders. und Mart-Jan Paul, Hg., Theologie van het Oude Testament: een literaire en thematische benadering, Zoetermeer: Boekencentrum.

57

Casper Labuschagne, Numerical Secrets of the Bible. Rediscovering the Bible Code, North Rich-

58
land Hills: BIBAL, 2000, S. 63 zählt sieben Monologe Gottes in der Urgeschichte, darüber

Noachidische Gebote

347

Siegbert Riecker

Gottes Selbstbeschluss in Genesis 1,26 und die Festlegung menschlicher Identität und Geschlechtlichkeit in V. 27 bestimmen als eine Art Überschrift über die Anthropologie des Alten Testaments das Wesen des Menschen als verantwortlicher Vertreter Gottes, des Herrschers über die Welt. Der an- schließende Segen mit der ersten direkten Anrede an den Menschen in V. 28f lässt eine Untergliederung in drei Mandate erkennen, welche in den folgenden Kapiteln mehrfach aufgegriffen wird. Anstelle der von Bonhoeffer verwende- ten Bezeichnungen »Ehe«, »Obrigkeit« und »Arbeit«, könnte man ausgehend vm Text der Vulgata auch von Mandaten zur »Multiplikation«, »Domination« und »Operation« reden. Präziser gesprochen handelt es sich um die Mandate

  1. sich zu mehren und die Erde auszufüllen (hier geht es nicht nur um Ehe, sondern auch um Nachkommenschaft und Besiedlung, also »Landnah- me«),

  2. sich die Erde zu unterwerfen und über die Tiere zu herrschen,

  3. die Erde zu bebauen und zu bewahren (Gen 2,15).

Der dritte Aspekt wird vielleicht aufgrund des späteren negativen Beige- schmacks der Arbeit (Gen 3,17f.23; 4,12; 5,29) in Genesis 1 noch nicht explizit genannt. Vielmehr wird grundlegender formuliert, dass dem Menschen Pflan- zen zur Nahrung geschenkt werden, ohne näher auf eine mögliche Beteiligung an deren Bereitstellung einzugehen.

Ethisch bedeutsam ist darüber hinaus die Heiligung des siebten Tages in Genesis 2,3. Man könnte hier von einer Grundstruktur der Schöpfung reden, welche auch für den Menschen als Teil derselben von Bedeutung wird. Die Ar- beit dauert nicht ewig, Gott schenkt Ruhe.

Der hier im Segen vorliegende Drei- bzw. Vierschritt mit anschließender Ruhe lässt sich unter veränderten Umständen in dem Fluch über Adam und Eva, sowie unter dann weiter veränderten Bedingungen in dem Segen über Noah und seine Söhne beobachten.

Multiplikation Domination

Segen Gen 1,28f Seid fruchtbar und

mehret euch und füllet die Erde

und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische ....

Fluch Gen 3,16-19 ... unter Mühen sollst

du Kinder gebären.

Und dein Verlangen soll nach deinem Man- ne sein, aber er soll dein Herr sein.

Segen Gen 9,1-6 Seid fruchtbar und

mehret euch und füllet die Erde.

Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren ....

348

hinaus vier weitere in der übrigen Tora (Gen 1,26; 2,18; 3,22; 6,3.7; 8,21f; 11,6f; 18,17-19; Ex 3,17; 13,17; Dt 32,20-27).

Noachidische Gebote

Operation

Requiem

Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen ... zu eurer Speise.

Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn ....

verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. ....

Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.

Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Spei- se; wie das grüne Kraut habe ichs euch alles gegeben.

Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Men- schen vergossen wer- den ....

Die Parallele im Aufbau deutet an, wie mit dem Sündenfall die Struktur der Schöpfung ins Wanken gerät, jedoch aufgrund von göttlichen Fluch- und Se- gensmaßnahmen nicht aus den Fugen bricht. Hier greift die in der Systematik erkannte Unterscheidung zwischen Schöpfungs- und Erhaltungsordnung, Ger- hard von Rad bezeichnet letztere als eine allgemeinmenschliche »Notord- nung«.59

Ist die unter dem Stichwort »Requiem« verzeichnete Analogie im Bereich der Ruhe beabsichtigt, wird nach dem Sündenfall mit (nach?) dem Tod eine Ruhe erhofft, welcher nach der Ermordung Abels sogar gewaltsam eintreten kann (vgl. Gen 4,14f.23f).

Am deutlichsten wird hier eine eintretende Verschiebung oder Ausweitung der Mandate in Bezug auf ihre jeweiligen Objekte erkennbar. Vor dem Sünden- fall ist nur die Multiplikation dem Menschen zugeordnet, die Domination da- gegen auf die Tierwelt und die Operation auf die Pflanzenwelt beschränkt.

Nach dem Fall weitet sich die Domination auf den Bereich des Menschen aus. Von nun an herrscht der Mensch über den Menschen, Mann über Frau (Gen 3,16), Herr über Knecht (vgl. 9,24-27), König über Untertan (10,8-12). Man könnte zudem Genesis 4,6 (formuliert in bewusster Anlehnung an 3,16) als Herrschaft des Menschen über (die Sünde in) sich selbst deuten. Somit ste- hen diese Formen der Herrschaft von Beginn an unter einem ambivalenten Vorzeichen als Maßnahmen zur Erhaltung der Ordnung, gleichzeitig jedoch als noch zu überwindender Schmerz.60 Der Bund Gottes mit Noah und seinen Söhnen weitet das Gebiet der Operation (Speise) auf das Tier aus. Trotz des

Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose. Das Alte Testament Deutsch, Göttingen: Vanden- hoeck & Ruprecht, 1949, S. 109. Diesen Begriff übernimmt von ihm Helmut Thielicke, Theo- logische Ethik I, S. 707 und unterscheidet zwischen »Schöpfungsordnungen« und »Notord- nungen«, an andere Stelle zwischen »der ursprüngliche Gotteswille« und »der durch die Sünde alterierte Gotteswille«, S. 246. Vgl. dazu Müller, Tora, S. 245-248.

Ein klares Verständnis der Konsequenzen dieser Ambivalenz bewahrt den Ethiker vor den Extremen einer undifferenzierten Rechtfertigung oder Nivellierung von Autoritätsstruktu- ren.

59

60

349

Siegbert Riecker

Geschenkcharakters bleibt auch hier ein schmerzhafter Beigeschmack. Unter dem Stichwort »Blut vergießen« eröffnet sich die Möglichkeit, den Bereich der Operation also ein Handeln, welches auch das Sterben des Objekts in Kauf nimmt auch auf den Menschen auszudehnen, welche hier jedoch grundle- gend mit einer hohen Sanktion belegt wird.

Zudem wird deutlich, dass sich weitere Handlungsmöglichkeiten über die drei bekannten Bereiche hinaus eröffnen. Die Pflanze bietet nicht nur Wein, der das Herz erfreut, sondern auch Heilung für die nach dem Sündenfall auf- tretenden körperlichen Beschwerden.61 Im Anschluss an Genesis 5,29 könnte man diesen Bereich als »Konsolation« (Trost) bezeichnen. Sie kann jedoch ebenso wie das Tier auf eine missbräuchliche Weise genossen werden. Die fol- gende Grafik verdeutlicht die Erweiterung des menschlichen Zugriffs auf die jeweiligen Objekte nach dem Sündenfall durch Gott (grau) und missbräuchlich durch den Menschen (schwarz):

Rausch (9,21)

Konsolation Operation Domination Multiplikation

Essen (1,29) (Herrschen) (Vermehren) Pflanze

Legende:

Herrschen (1,28) Vermehren (1,22) Tier

Antelapsarisches Mandat

Vermehren (1,28) Mensch

Trost (5,29)

Blut essen (9,4)

Essen (9,2f)

Mord (9,5f)

Herrschen (3,16)

Postlapsarische

Härteregelung

Missbräuchliche

Ausweitung

61

Zur Deutung von 5,29 auf den Weinbau hin vgl. mit zahlreichen dort genannten Kommenta- toren auch jüngst Andreas Schüle, Der Prolog der hebräischen Bibel. Der literar- und theolo- giegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Gen 111), Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2006, S. 277. Zur inhaltlichen Verbindung von Wein und Heilung vgl. 1.Tim 5,23. Vgl. Alan Kam-Yau Chan, Thomas B. Song und Michael L. Brown, »רפא«, in: Willem VanGemeren, Hg., New International Dictionary of Old Testament Theology & Exegesis, Leicester: Paternoster, 1996, Bd. 3, S. 1162-73, hier S. 1166-9 zur Nutzung von einem Pflaster aus Feigen bei der Heilung von Hiskia in 2.Kö 20,7 || Jes 38,21, von einer Salbe, möglicherweise aus dem Harz von Pistazienbäumen, Jer 8,22; 46,11; 51,8, dazu Gary H. Hall, »ְצִרי/ ֳצִרי «, in: Willem VanGe- meren, Hg., New International Dictionary of Old Testament Theology & Exegesis, Leicester: Pa- ternoster, 1996, Bd. 3, S. 844f; von Olivenöl Jes 1,6; im übertragenden Sinn von Holz in Ex 15,25 (in Verbindung mit V.26!). Für die Zukunft erwartet Hesekiel das Wachstum von Bäumen, deren Blätter nicht verwelken und zur Arznei dienen (Hes 47,12). Das hier aufge- führte Bild zur Überwindung von Krankheit am Ende greift auf den Baum des Lebens im Ur- zustand zurück (so bereits die Deutung in Offb 22,2), dessen Stoffe nach Gen 3,22 zu ewigem Leben führen, und der in Spr 15,4a Vergleichsgegenstand einer »Zunge, die Heilung bringt« ist.

350

3.3 Der Rückschluss auf ein allgemeingültiges Ethos aus Berichten über moralische Vergehen in der Urgeschichte mit Ausblick auf das übrige Buch Genesis

Die konzentrisch aufgebauten Erzählungen von Sündenfall (Gen 2,5-3,24) und Kain und Abel (4,1-26) weisen zahlreiche Parallelen auf, gemeinsam ist ihnen im Zentrum die Tat der Sünde: Der Ungehorsam gegenüber Gottes Gebot (3,6f) und der Mord am Bruder (4,8).62

Als Folge der Sünde ergibt sich die Scham (2,25; 3,7.10f). Naturrechtlich ein- geordnet, tritt die Scham als Empfinden im Menschen selbst auf, ausgedrückt durch die Formulierung »da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan« (3,7). Es muss dem Menschen nicht offenbart werden, er nimmt es von selbst wahr. Schamloses Verhalten, wie in Genesis 9,22 geschildert, ist von diesem Stand- punkt aus etwas Unnatürliches, nachträglich Erworbenes.

Der Mord an einem Menschen wird in Genesis 4 nicht als Verstoß gegen ein 􏰀Noachidisches􏰁 oder 􏰀Adamitisches􏰁 Gebot, sondern als etwas »nicht Gutes« bezeichnet. In V. 7 legt Gott Kain die Alternativen ֵתי ִטיב »du tust Gutes« und du tust nicht Gutes« vor, wobei Absichten, Gedanken und Pläne» ל ֺא ֵתי ִטיב hier mit eingeschlossen sind. Kain weiß in sich, was gut und böse ist, so weiß er auch, dass Mord böse ist. Es muss ihm nicht mehr von außen gesagt werden. Literarisch wird dies auf das Essen vom Baum der Erkenntnis zurückgeführt.63 Dasselbe gilt für die Gewalt auf der Erde zu Zeiten Noahs. Die Fluterzählung wird gerahmt von der Feststellung, dass das ֵי ֶצר »Sinnen« des menschlichen böse« ist (6,5, 8,21). Der Chiasmus in 6,11-13 spielt mit» ַרע Herzens« nur» ֵלב dem Wortsinn von שׁחת. Die erste Hälfte formuliert im nif. »verdorben sein«, die zweite Hälfte im hif. »verderben«. Dort verdirbt das »Fleisch« die Erde (V.12b), daraufhin verdirbt Gott selbst die Erde und beendet damit das Unwe- sen des »Fleisches« (V.13):

Noachidische Gebote

62 63

Vgl. beispielsweise Gordon Wenham, Genesis 1-15, WBC, Waco: Word, 1987, S. 99.
Schüle,
Prolog, S. 187, 176f. Andreas Schüle redet an dieser Stelle von einer charakterlichen Verwandlung Kains: »Die Integrität des guten/aufrechten Wesens verliert Kain, indem er sich als von Gott zurückgewiesen versteht; und dies korrumpiert ihn nun in einer Weise, die ihn anfällig macht für den Einfluss der חטאת, der Sünde. Der Brudermord ist damit nicht das Ergebnis einer bösen, aber doch freien Willensentscheidung, sondern des Beherrschtseins durch die fremde Macht der Sünde, an die sich der Mensch verliert«, ebd., S. 187.

351

Siegbert Riecker

V.11 V.12 V.13

«Erde» ֶאֶרץ + «nif. »verdorben sein שׁחת
«und erfüllt war die Erde mit Gewalt» ַו ִתּ ָמּ ֵלא ָה ָא ֶרץ ָח ָמס

«nif. »verdorben sein שׁחת

«hif. »verderben שׁחת
«erfüllt ist die Erde mit Gewalt» ָמ ְל ָאה ָה ָאֶרץ ָח ָמס

«Erde» ֶאֶרץhif.»verderbenשׁחת

Die ָח ָמס »Gewalttat« bezeichnet ethische Vergehen im sozialen Bereich, bis hin zu Mord. Wie der Brudermord ist sie nicht ausdrücklich verboten. Den- noch ist es dem Menschen offensichtlich deutlich, dass sie böse ist, er wird da- für zur Rechenschaft gezogen.

Es ist fraglich, ob die in Genesis 9,4.5 genannten Verbote wirklich im Sinne von »Geboten« innerhalb des Noahbundes (analog zum sinaitischen Gesetz) gedeu- ְו ַאְ .nur« bzw» ַאְ tet werden können.64 Eingeleitet werden beide Sätze mit »doch nur«, so dass man eher von einer »Beschränkung im Segen des Schöp- fers«65 reden sollte, einer doppelten Einschränkung zum Geschenk fleischli- cher Nahrung. Ferner ist bei Spekulationen hinsichtlich des Subjekts der Rache für Mord Vorsicht angesagt. Genesis 9,5 betont, dass Gott selbst der Rächer ist. Der Chiasmus in Genesis 9,6 fügt dem nichts Neues hinzu:

ִי ָשּׁ ֵפְ

»werde vergossen«

ַדּמוֹ

»sein Blut«

ָבּ ָא ָדם

»für den Menschen«

ָה ָא ָדם

»des Menschen«

ַדּם

»Blut«

שֺׁ ֵפְ

»wer vergießt«

Die Parallele in Dt 19,21 (»Leben für Leben«), die Übersetzung der Septuaginta (ἀντί), sowie die meisten frühen Übersetzungen sprechen dafür, das ב Beth an dieser Stelle nicht als Beth instrumenti (»durch«), sondern als Beth pretii (»für«) zu übersetzen.66 Dieser Vers formuliert grundlegend und lässt die Fra-

Nach L. Stachowiak, »Der Sinn der sogenannten Noachitischen Gebote (Genesis IX 1-7)«, in: J.A. Emerton, Hg., Congress Volume. Vienna 1980, VT Supp 32, Leiden: Brill, 1981, S. 395-404, hier S. 399 verbietet es sich, »die sog. noachitischen Gebote als Vorbedingung der berît zu verstehen.«

Claus Westermann, Genesis. Bd. II: Genesis 1-11 (BK I/1). Teil 2: Gen 4-11, 4. Auflage (1. Auflage 1974), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1999, S. 628.
Johan Lust, »􏰀For Man Shall His Blood Be Shed􏰁. Gen 9:6 in Hebrew and in Greek«, in: Gerard J. Norton und Stephen Pisano, Hg., Tradition of the Text. Studies offered to Dominique

64

65

66

352

ge nach einer Institutionalisierung mittels Todesstrafe oder Blutrache noch offen.

Der Wunsch der Arbeiter am Turm von Babel, »wir wollen uns einen Na- men machen« (Gen 11,4), offenbart im Zusammenhang mit Genesis 12,2 (»Ich will deinen Namen groß machen«) eine bedenkliche Herzenshaltung. Gott lehnt zwar nicht den Wunsch nach menschlichem Ansehen ab, wohl aber das Vorhaben, sich dieses unabhängig von ihm zu erwerben. Markus Bockmuehl sieht hier eine Inclusio mit Genesis 3,5, denn in beiden Fällen geht es auf eine bestimmte Weise darum, zu sein wie Gott (»und seine Spitze bis an den Him- mel«). Weder Gebot noch nachträgliche Belehrung werden in Genesis 11 be- richtet. Es versteht sich von selbst, dass das Vorhaben nicht in Ordnung ist.67

Bockmuehl nennt in diesem Zusammenhang zwei weitere in der Urge- schichte aufgeführte Vergehen (allerdings nicht durch Menschen), deren Ver- werflichkeit vorausgesetzt wird:

  • Die Verführung des Menschen durch die Schlange (Gen 3,14),

  • Widernatürliche geschlechtliche Verbindungen zwischen »Söhnen Got-

    tes« und »Töchtern der Menschen« (Gen 6,1-4).

    Auch in der Vätererzählung gibt es Hinweise auf Verhaltensweisen, die über die Sippengrenze hinaus selbstverständlich als gut bzw. verwerflich gelten. Von einer allgemeingültigen quasi-natürlichen sozialen Konvention lässt sich bei dem Verbot unehelicher oder außerehelicher Sexualität reden. Es ist eine »Schandtat«, wie in dem Fall von Sichem und Dina: »Solches durfte nicht ge- schehen« (Gen 34,7; vgl. 2.Sam 13,12). Abimelech, der König von Gerar, hat beinahe Geschlechtsverkehr mit Abrahams Frau Sara, aber nicht, weil ihm die- se Konvention unbekannt ist, sondern weil er im Unklaren über Saras Ehe- stand ist. Gott warnt ihn im Traum (Gen 20,3-7). Ebenso ist es für Abimelech auch ohne Offenbarung Gottes klar, dass der Beischlaf mit einer verheirateten Frau Schuld bedeutet, und er belegt diese Tat mit der Todesstrafe (Gen 26,10f).

    Daneben finden sich in der Vätererzählung weitere Hinweise auf eine Ver- antwortlichkeit aller Menschen vor Gott für ihre moralischen Vergehen:

    Barthélemy in Celebration of his 70th Birthday, OBO 109, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991, S. 91-102, hier S. 93-96, 101. Alexander Ernst, »􏰀Wer Menschenblut ver- gießt...􏰁: Zur Übersetzung von באדם in Gen 9,6«, ZAW 102, S. 252f. Horst Seebass, Genesis 1. Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1996, S. 225. Dagegen von Rad, Das erste Buch Mose, S. 110, und mit ihm viele andere. Zum Chiasmus vgl. Wenham, Genesis 1-15, S. 193.

Bockmuehl, Jewish Law, S. 151, auch zu den in folgendem aufgeführten Beispielen der

67
Schlange, Gottessöhne, Dina, Tamar und Abimelech, vgl. auch S. 91.

Noachidische Gebote

353

Siegbert Riecker

  • Wie Abimelech wird auch ein Pharao für die Liebschaft mit einer ver- heirateten Frau zur Rechenschaft gezogen (12,10-20).

  • Wie die Generation Noahs werden auch die Einwohner Sodoms von Gott wahrgenommen: Sie sind ַרע »böse« und חטא »sündigen« sehr vordemHerrn«(Gen13,13).ErprüfteineKlage,welcheihm» ַליהָוה über Sodom und Gomorra zu Ohren gekommen ist (18,20f; vgl. 19,13). Inhaltlich werden Vergehen im geschlechtlichen Bereich und wohl auch Mord angedeutet (19,5-10).

  • Ebenso beobachtet Gott genau ein Anwachsen von עוֹן »Schuld« unter den Einwohnern Kanaans im Allgemeinen. Es ist hier ein bestimmtes Maß göttlicher Geduld mit Heiden angedeutet (15,16).

  • In Genesis 15,13f kündigt Gott an, die Nation (Ägypten) zu richten, wel- che eine andere Nation ענה »unterdrückt«, während sie ihr עבד »die- nen« muss.

  • Die Rückführung der Völker Moab und Ammon auf eine Inzest- Verbindung nach Weingenuss erinnert an das Verhalten von Ham und setzt ohne ausdrückliche Verurteilung offensichtlich ein negatives Vor- zeichen (19,30-38).

  • Gott beobachtet das Betrügen Labans (31,12) und warnt ihn im Traum vor weiterem Fehlverhalten (V.25.29).

    3.4 Der Rückschluss auf ein allgemeingültiges Ethos aus moralischen Paradigmen in der Urgeschichte mit Ausblick auf das übrige Buch Genesis

    Doch ist es mit der Konstatierung von Verstößen gegen ein allgemeingültiges Ethos nicht getan. Nach Ansicht von Waldemar Janzen stellt das Alte Testa- ment darüber hinaus »Paradigmen« ethischen Wohlverhaltens vor. Gordon Wenham weist darauf hin, dass gerade das Buch Genesis ethisch gutes Verhal- ten in Form (biographischer) Erzählungen lehrt:

    Thus out of the stories of Genesis we can build up a catalogue of the virtues as they are preceived by the author, an identikit picture of the righteous. He or she is pious, that is prayerful and dependent on God. Strong and coura- geous, but not aggressive or mean. He or she is generous, truthful and loyal, particularly to other family members. The righteous person is not afraid to

354

express emotions of joy, grief or anger, but the last should not spill over into excessive revenge, rather he should be ready to forgive.68

Bereits in der Urgeschichte finden sich zahlreiche Vorbilder:

  • Abel bringt dem Gott, der den Menschen geschaffen hat, eine wohlgefäl- lige Opfergabe dar (Gen 4,3f).

  • Zur Zeit von Enosch beginnt man damit, den Gott, der den Menschen gerufen hat, nun selbst anrufen (4,26; vgl. 3,9).

  • Es findet sich das Vorbild von Henoch, der mit Gott »wandelt«, d.h. mit ihm lebt (Gen 5,22.24; vgl. 3,8).

  • Deutlich wird Noah seiner gewalttätigen, verderbenden Generation als positives Paradigma entgegengestellt: Er wird als ַצ ִדּיק »gerecht« und Wandeln« steht» הלך untadelig« beschrieben (6,9; 7,1). Sein» ָת ִמים dem ְֶדֶּר »Weg« allen Fleisches, beides auf derselben metaphorischen Ebene für das Leben, gegenüber (6,9.12).69 Er gehorcht dem Gott, der zu ihm redet, sofort und genau. Er baut dem Gott, der ihm rettet, einen Altar und opfert ihm.

    Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit verbindet sich hier der Bereich all- gemeingültiger Ethik mit dem Element des Religiösen. Ungeachtet seiner Kul- tur steht jeder Mensch unter einer ethischen Verpflichtung Gott gegenüber, insofern er diesen als Schöpfer, kommunikatives Wesen, Gebieter oder Retter erkennt.

    3.5 Ein Ethos für Ausländer und Fremde im weiteren Verlauf des »Priesterkanons«

    Mit den Begriffen ענה »unterdrücken« und עבד »dienen« knüpft Exo- dus 1,11-14 an Genesis 15,13 an. Der Zwang zur Arbeit geschieht ְְבּ ָפ ֶר »mit Härte, Unbarmherzigkeit«. Das Leben der unterdrückten Nation wird bitter gemacht. Der Pharao רעע hif. »handelt böse« am Volk (Ex 5,23; vgl. Gen 19,7.9; 31,7). Schließlich wird jeder neugeborene Sohn getötet. Ähnlich wie bei Sodom dringt das Geschrei der Unterdrückten zu Gott (Ex 2,23-25;

    Gordon Wenham, Story as Torah. Reading the Old Testament Ethically, Edinburgh: T&T Clark, 2000, S. 100, zitiert in Wright, Ethics, S. 368, welcher auch auf Waldemar Janzen, Old Testa- ment Ethics. A Paradigmatic Approach, Louisville: Westminster John Knox, 1994 hinweist. Markus Philipp Zehnder, Wegmetaphorik im Alten Testament. BZAW 268, Berlin: De Gruyter, 1999, S. 537, weist darauf hin, dass sich in Genesis 6,12 das einzige Weg-Lexem im gesamten Pentateuch befindet, welches zur Bezeichnung des Lebenswandels verwendet wird.

Noachidische Gebote

68

69

355

Siegbert Riecker

3,7.9). Das Gegenparadigma bilden die Hebammen, welche »Gott fürchten« und den Kindermord verweigern (V.17.21).

Nach der erlebten Unterdrückung und nach deren Ende stellt sich für das Volk Israel die Frage nach dem eigenen Umgang mit Fremden.70 Die Tora ent- hält eine ganze Reihe von Gesetzen, welche sich auf Ausländer und Fremde beziehen. Es ist hilfreich, hier mit Jose Ramirez Kidd zu unterscheiden zwi- schen Gesetzen an Israeliten zum Schutz des Fremden und Gesetzen an Frem- de (und Israeliten) zum Schutz der Heiligkeit der Gemeinschaft.71 Zu der ers- ten Gruppe zählen zahlreiche Gesetze zur Gleichstellung des Fremden mit dem Einheimischen, wobei es hier »modern ausgedrückt um die Beachtung seiner Gleichwertigkeit« geht.72 Dies bedeutet nicht automatisch, dass für den Frem- den alle ethischen Anforderungen der Tora gelten.73 Die Gesetze der zweiten Gruppe, welche sich also an Fremde richten, lassen im Bereich Lev 17-22 eine chiastische Anordnung um das zentrale Liebesgebot erkennen:74

Beleg

Ex 12,19
Ex 12,43-49
(Ex 20,10; 23,12)

Verbot

Sauerteig während des Passas essen Unbeschnitten am Passa teilnehmen Am Sabbat arbeiten (an Einheimische?)

70

71 72

73

74

Vgl. Ex 22,20; 23,9; Lev 19,33f; Dt 5,15; 10,19; 15,15; 16,12; 23,8; 24,18; 24,22; 26,6. Vgl. zur Unterscheidung zwischen »Ägypten-עבד« und »Ägypten-גר«-Formeln Jose E. Ramirez Kidd, Alterity and Identity in Israel. The גר in the Old Testament. BZAW 283, Berlin: De Gruyter, 1999, S. 88-90, Ludger Schwienhorst-Schönberger, Das Bundesbuch (Ex 20,22-23,33). Studien zu seiner Entstehung und Theologie, Berlin: De Gruyter, 1990, S. 347-50 und Norbert Lohfink, »Gibt es eine deuteronomistische Bearbeitung im Bundesbuch?«, in: Gerhard Dautzenberg u.a., Hg., Studien zum Deuternomium und zur deuteronomistischen Literatur 3, Stuttgart: Ka- tholisches Bibelwerk, 1995, S. 39-64, hier S. 52.

Kidd, Alterity and Identity, S. 131.
Markus Philipp Zehnder,
Umgang mit Fremden in Israel. Ein Beitrag zur Anthropologie des »Fremden« im Licht antiker Quellen. Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testa- ment 168, Stuttgart: Kohlhammer, 2005, S. 344. Vgl. Ex 12,49; Lev 24,22; Num 9,14; 15,15.16.29. Vgl. an zentraler Stelle die Gebote zur Liebe des Fremden in Lev 19,33f; Dt 10,17-19, Siegbert Riecker, Ein Priestervolk für alle Völker. Der Segensauftrag Israels für alle Nationen in der Tora und den Vorderen Propheten, SBB 59, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2007, S. 322-342.
Vgl. Jacob Milgrom,
Leviticus 17-22, AncB, New York: Doubleday, 2000, S. 1496. Philipp A. Enger, Die Adoptivkinder Abrahams. Eine exegetische Spurensuche zur Vorgeschichte des Proselytentums, Frankfurt: Peter Lang, 2006, S. 90. Deutliche Unterschiede in der Behand- lung von Fremden bzw. hauptsächlich Ausländern, welche nicht schutzbefohlen sind, finden sich in Lev 25,44-48; Dtn 14,21; 15,3; 17,15; 23,21.
Mit Stern (*) versehen in der Tabelle die Gebote, welche im Text affirmativ formulieren. In eckigen Klammern ([]) Textbereiche, für die möglicherweise ebenso an den Einschluss des Fremden gedacht ist. Der Chiasmus spiegelt die Struktur von Lev 17; 18; 19; 20; 21f wider nach Klaus Grünwaldt,
Das Heiligkeitsgesetz Leviticus 17-26. Ursprüngliche Gestalt, Tradition und Theologie, BZAW 271, Berlin: De Gruyter, 1999, S. 133.

356

Beleg
Lev 16,29
A Lev 17,8-16

Verbot
Essen am Großen Versöhnungstag

Opfer: Ort abseits des Zentralheiligtums, ferner: Essen von Blut
Unreinheit nach Essen von Aas

»Gräuel« von Lev 18,6-23 tun
(Zentrales Gebot zur Liebe des Fremden; an Einheimische)

»Gräuel«: Kind dem Moloch opfern [und weitere Gräuel] Opfer: mit Makel

Gotteslästerung
Passa: entgegen der Ordnung*
Opfer: entgegen der Ordnung*
Ungesühnte* oder absichtliche Sünden Unreinheit*
Blutrache in Zufluchtsstädten* [und Tötung]

Am Sabbat arbeiten (an Einheimische?) Bundesbruch*
Bundesbruch*

BLev 20,2[-27] ALev 22,18-25

Lev 24,10-23 Num 9,14
Num 15,14-16 Num 15,22-31 Num 19,10 Num 35,15[-34]

(Dt 5,12-15) Dt 29,10
Dt 31,12

Noachidische Gebote

B Lev 18,26
C (Lev 19,33f)

Nicht alle Gebote im Text formulieren im Wortlaut negativ als »Verbote« (vgl. die hier mit Stern * versehenen Gebote). Inhaltlich stellt der jüdische Gelehrte Jacob Milgrom jedoch fest, dass der Fremde in Israel lediglich an Verbote, nicht jedoch an Gebote gebunden zu sein scheint, und führt dies auf die Theologie des Landes zurück:

The violation of a prohibition generates a toxic impurity that radiates into the environment, polluting the sanctuary and the land. Sexual offenses and homi- cide for example, pollute the land (Lev 18:27-28; Num 35:34-35), and Molek worship and corpse-contamination pollute the sanctuary (Lev 20:3; Num 19:13). It therefore makes no difference whether the polluter is an Israelite or a gēr: anyone in residence in YHWH’s land is capable of polluting it or the sanctuary.75

Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie detailliert die Verbote zu beachten sind. Die rabbinische Diskussion geht beispielsweise verhalten auf die Frage nach gemischter Saat und gemischtem Gewebe ein.76 Zudem stellt sich die Frage, ob eine Unterscheidung zwischen Geboten und Verboten überhaupt methodisch sauber vertreten werden kann.77 Drittens ist zu bedenken, dass Milgrom hier das Land Israel in einer Sonderrolle als heiliges Land sieht. Man müsste also

Milgrom, Leviticus 17-22, S. 1417.
Rabbi Eleazar in Talmud Traktat
Sanhedrin 56b. Vgl. Milgrom, Leviticus 17-22, S. 1497, der darüber hinaus selbst auf die Ausnahme seiner Regel in Lev 17,3.5 verweist.
Milgrom definiert »performative commandments« (Gebote) im Unterschied zu Verboten als solche, welche dann gebrochen werden, wenn die Hörer »sit and do nothing«, ebd., S. 1417. Zu Zweifeln an der Möglichkeit einer klaren Unterscheindung zwischen Geboten und Verbo- ten vgl. Zehnder,
Umgang mit Fremden, S. 349, Fn. 1.

75 76

77

357

Siegbert Riecker

unterscheiden, welche Vergehen das (eine heilige) Land entheiligen und wel- che Vergehen ein (jedes) Land verunreinigen.

Trotz der genannten Vorbehalte ist eine verblüffend große Schnittmenge mit den in der Urgeschichte und übrigen Tora genannten Vergehen von Nich- tisraeliten zu beobachten:78

  • Essen von Blut,

  • zahlreiche »Gräuel« der Kanaaniter im sexuellen Bereich,

  • einschließlich Inzucht,

  • Ehebruch (Lev 18,20; 20,10),

  • »Aufdecken der Blöße« des Vaters (18,7; 20,11),

  • Götzendienst (Moloch),

  • Gotteslästerung und

  • Mord.

    Gerade die den Kanaanitern vor der Landnahme zur Last gelegten moralischen Vergehen scheinen noch nicht die Heiligkeit (da noch ohne Heiligtum), son- dern lediglich die Reinheit des Landes zu betreffen und von daher auf andere Länder übertragbar zu sein (Lev 18,1-30; 20,22-24; Dtn 12,31; 18,10f). Um solcher Vergehen willen speit das Land seine Bewohner aus (Lev 18,28; 20,22; vgl. Hos 4,2f).

    Bei den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Wüste, während der Landnahme und später mit den Nachbarvölkern stellt sich die Frage nach all- gemeingültigen moralischen Prinzipien für den Umgang von Völkern mitei- nander. So wird beispielsweise der Angriff der Amalekiter auf ein schwaches wehrloses Volk bitter angeklagt (Dtn 25,17-19). Die Erniedrigung von freund- lichen Gesandten macht ein Volk »stinkend« (2.Sam 10,6; vgl. u.a. 16,21; Gen 34,30). Es erscheint offensichtlich, dass man Kriegsgefangene nicht tötet (2.Kö 6,22).79 Auch das teilweise sehr genau beschriebene Verhalten einzelner Ausländer wie Jitro, Rahab, Naaman oder der Königin von Saba kann hier zu tieferen Einsichten führen.

    Vgl. Bockmuehl, Jewish Law, S. 152f und Müller, Tora, S. 72-80, welcher auf Verbindung zwi- schen den Auflagen für den ger toschav (»Beisassen«) und den Noachidischen Geboten bei Maimonides und bereits im babylonischen Talmud Traktat Aboda Zara 64b verweist. Müller, Tora, S. 73, selbst kommt bei seiner kursorischen Durchsicht des biblischen Befundes zu dem Schluss: »Biblisch kann freilich keine Rede davon sein, da die Beisassen auf die noachi- dischen Gebote verpflichtet gewesen wären.«

    Zu den beiden letztgenannten Beispielen Bockmuehl, Jewish Law, S. 153, Fn. 31. 358

78

79

3.6 Moralische Standards für das Gericht über die Nationen im »Prophetenkanon«

Walter Brueggemann formuliert in dem Kapitel »Yahwe and the Superpowers« seiner alttestamentlichen Theologie pointiert, dass

there is a kind of international law or code of human standards that seems to anticipate the Helsinki Accords of 1975 in a rough way, a code that requires every nation to act in civility and humaneness toward other. Any affront of this standard is taken to be an act of autonomy, arrogance, and self- sufficiency, which flies in the face of Yahweh’s governance. Thus Yahweh is the guarantor, not only of Israel, but of the nations in their treatment of each other.80

Hinweise darauf findet er in den Fremdvölkersprüchen der Hinteren Prophe- ten. Er verweist auf Amos 1,1-2,3, wo einige »Kriegsverbrechen« der Israel umgebenden Völker aufgeführt werden. In seinem Kommentar zu diesem Ab- schnitt fasst Hans Walter Wolff zusammen:

Unmenschlich ist es,
Menschen wie Stroh zu dreschen (1
3)
oder wie Ware auszuliefern (1
6),
wehrlose Schwangere und das Leben der Ungeborenen zu gefährden (1
13) oder die Gebeine eines Toten auf ihren Materialwert hin auszubeuten (2 1).

81

Das letzte Beispiel zeigt deutlich, daß solche Taten nicht erst dadurch Schuld vor Jahwe werden, daß sie gegen Menschen des Gottesvolkes gerichtet sind.

... Die Sache Jahwes ist die Sache des hilflosen Menschen schlechthin.

Das Gericht über Ägypten in den Hinteren Propheten knüpft an das Geschehen in Exodus 1-18 an. Ägypten wird für seine Unterdrückung Israels gerichtet, aber auch für seinen Stolz (Hes 29,3; 32,31f). Babylon wird als erbarmungslos beschrieben (Jer 6,23). Mit großen Bildern beschreibt Jesaja in Kapitel 14 den Hochmut des babylonischen Königs. Assyrien wird für seinen Hochmut und eingebildete Unabhängigkeit von Gott gerichtet (Jes 10,12f; 37,29). Nahum wirft der Stadt Ninive ihre Bosheit, Lüge, Raub, massenhaften Mord, Hurerei und Zauberei vor (1,11; 3,1-4).

Walter Brueggemann, Theology of the Old Testament. Testimony, Dispute, Advocacy, Minne- apolis: Fortress, 1997, S. 503 (zu Folgendem S. 506-520) mit Verweis auf Walter Harrelson, The Ten Commandments and Human Rights, Philadelphia: Fortress, 1980, S. 173-201.
Hans Walter Wolff,
Dodekapropheten 2. Joel und Amos, 2. Auflage (1. Auflage 1969), Neukir- chen-Vluyn: Neukirchener, 1975, S. 209, der auf S. 210 das Wort »Kriegsverbrechen« ver- wendet. Für Bockmuehl, Jewish Law, S. 153 ist Amos 1-2 der wohl bedeutendste propheti- sche Abschnitt zum Thema.

Noachidische Gebote

80

81

359

Siegbert Riecker

Auch das Buch Jona kennt die Bosheit Ninives, die ähnlich wie das Geschrei des Blutes von Abel, der Sünden Sodom und Gomorras und der Unterdrückung durch Ägypten zu Gott aufsteigt (Jon 1,2). Für die Seeleute ist es selbstver- ständlich, dass das Töten eines unschuldigen Mannes Gericht nach sich zieht. Für eine Rettung bedankt man sich bei der zuständigen Gottheit mit Opfern (V.14.16).

Darüber hinaus finden sich in den Hinteren Propheten mindestens drei an Israel gerichtete Texte mit ethischen Anforderungen, welche möglicherweise über den nationalen Horizont hinausweisen:82

  • Hesekiel 33,25f argumentiert, dass das Volk Israel das Land nicht besit- zen wird, weil es nicht einmal die grundlegenden Gebote halten kann, welche Abraham (V.24) gehalten hat. Die Tosefta Traktat Sota 6 möchte hier die Noachidischen Gebote erkennen (in Klammern die rabbinische Zuordnung der Gebote):

    Ihr habt das Fleisch über dem Blut gegessen (Glied vom lebendigen Tier) und eure Augen zu den Götzen aufgehoben (Götzendienst) und Blut vergossen (Blutvergießen) - und dann wollt ihr das Land besitzen? Ihr verlasst euch auf euer Schwert (Rechtsprechung, Raub) und übt Gräuel (Homosexualität), und einer schändet die Frau des andern (Unzucht).

  • Nach Hosea 4,2f אבל »trauert, vertrocknet« das Land aufgrund der da- rin verübten Verbrechen (vgl. Lev 18,28; 20,22): »Verfluchen, Lügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen ... Blutschuld«.

  • Micha 6,8 formuliert: »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott« (vgl. Jer 9,23). Im Vergleich der Anrede )«...Mensch« mit Dt 10,12f (»Und nun, Israel, was fordert Jhwh» ָא ָדם könnte man folgern, dass Gott die Menschheit wie Israel hier vor die- selbe ethische Grundfrage stellt.83

    Schließlich ist der Prophet Habakuk zu nennen, der den Gewalttätigen, Treulo- sen und Anmaßenden verurteilt (2,5). Ferner verurteilt er in fünf Wehen an

    Bockmuehl, Jewish Law, S. 154f. Zu Hesekiel 33 vgl. Müller, Tora, S. 30-33: An die Stelle der sonst üblichen Gotteslästerung tritt hier die Homosexualität (vgl. im Neuen Testament Röm 1,26f). Bockmuehl, Jewish Law, S. 93f sieht in Hosea 4 »an early natural law connection in the Hebrew understanding of the Ten Commandments«, an welche die dort aufgeführten Verbrechen erinnern.

    Walter Brueggemann, »Walk Humbly with Your God. Micah 6:8«, Journal for Preachers 33/4 (2010), S. 14-19, hier S. 14. Andererseits ist die Anrede auch aus spezifisch sinaitischen Ge- setzen bekannt, vgl. Lev 1,2; 13,2; Num 19,14 u.a., Hans Walter Wolff, Dodekapropheten 4. Micha, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1982, S. 153.

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83

360

einen Unbekannten Blutschuld und Gewalttat, (1) Wucher, (2) Ausbeutung, (3) Blutvergießen, (4) Schamlosigkeit und (5) Götzendienst anprangert (V.6-20).

3.7 Ein internationales Ethos im »Weisheitskanon«

Psalm 96 widerspricht der Annahme, dass der ethische Standard eines jeden Volkes individuell auf dessen Gottheit(en) zurückgeführt werden muss. Die Götter werden als wertlose Götzen bezeichnet (V.4). Allein Jhwh wird die Völ- ker der Welt in Gerechtigkeit und Wahrheit richten (V.10.13), denn er ist der König der Welt (V.10). Die Götter sind ihm nicht nur graduell, sondern sub- stantiell unterlegen, denn er allein ist der Schöpfer der Welt (95,3.5). Ihr ur- sprünglicher Auftrag hat starke ethische Anklänge, den Maßstab setzt jedoch Jhwh (82,2-4). Sie werden gerichtet (V.7f), »deshalb weil sie die Völker, die sie leiten sollten, irre geleitet haben«.84 Somit klärt der Psalter grundlegende Fra- gen nach einem allgemeingültigen Anspruch ethischer Maßstäbe des ver- meintlichen »Nationalgottes« Israels.

Hiob aus dem Land Uz ist wohl ein Edomiter (vgl. Gen 36,28; 1.Chr 1,42; Klg 4,21; Jer 49,7; Ob 8f). Sein Freund Zofar verweist auf die allgemeingültige Beobachtung der Menschheitsgeschichte als Quelle ethischen Verhaltens: »Weißt du nicht, dass es allezeit so gegangen ist, seitdem Menschen auf Erden gewesen sind, dass das Frohlocken der Gottlosen nicht lange währt...« (20,4f).85 Die in Hiobs Verteidigung genannten Tugenden können als paradig- matische Beschreibung eines gottesfürchtigen Nicht-Israeliten gedeutet wer- den. Christopher Wright beobachtet folgende Eigenschaften Hiobs:

  • Disziplin gegenüber Sinneslust (V.1),

  • Verzicht auf Ehebruch (V.9-12),

  • Ehrlichkeit im Handel (V.5f),

  • Gerechtigkeit gegenüber Sklaven (V.13-15),

    Franz Delitzsch, Commentar über das Buch Jesaja, 4. Auflage, Leipzig: Dörffling & Franke, 1889, S. 292. Zu ursprünglichem Auftrag und Strafgericht über die Götter in Psalm 82 siehe Hendrik J. Koorevaar, »Psalm 82: Wie zijn de goden?«, in: A. G. Knevel, Hg., Moeilijke Psal- men, Theologische verkenningen. Bijbel en praktijk, Kampen: Uitgeverij Kok Voorhoeve, 1992, S. 57-69, hier S. 63. Zur programmatischen Bedeutung von Psalm 96,10 vgl. Bruegge- mann, Theology, S. 492-495.

    Bockmuehl, Jewish Law, S. 94 verweist darüber hinaus auf die Beobachtung menschlicher Beziehungen in Hiob 31,13-15 und auf S. 155 auf eine Untersuchung von Robert Gordis, Judaic Ethics For a Lawless World, New York: Jewish Theological Seminary of America, 1986, S. 63, hinsichtlich der Bedeutung ehrenhaften Verhaltens in Sprüche 31. Zu folgendem Wright, Ethics, S. 371f.

Noachidische Gebote

84

85

361

Siegbert Riecker

  • Großzügigkeit und Erbarmen gegenüber allen Kategorien von Armen (V.16-23),

  • Meidung von Götzendienst, sowohl Materialismus als auch Astrologie (V.24-28),

  • Kontrolle von Gedanken und Zunge (V.29f),

  • Gastfreundschaft (V.31f),

  • Bereitschaft zu öffentlichem Sündenbekenntnis (V.33f),

  • Anständiges Verhalten gegenüber Land und Arbeitern, gerechter Lohn

    (V.38-40).

    Im Anschluss an Gerhard von Rad ist Markus Bockmuehl sehr skeptisch hin- sichtlich einer Bedeutung des Buchs der Sprüche für die Frage nach einem Na- turrecht: »much of Israelite wisdom literature offers only the complex counsel of experience rather than moral principles derived from the created order by inductive analogy«.86 Nichtsdestotrotz kann gerade von Rad feststellen, dass die Weisheit in Sprüche 8,15f »als eine Erzieherin der Heiden bezeichnet« wird.87 Die Sprüche setzen die Furcht des Schöpfergottes Jhwh an den Anfang internationaler Weisheit (1,7; 9,10). Auf dieser Grundlage wird der Mensch zu einer demütigen Haltung (15,33; 22,4) und Achtung aller Menschen als Ge- schöpfe des einen Gottes (4,31; 17,5; 22,2) geführt. Christopher Wright sieht in den Sprüchen weitere moralische Standards von dem Wesen Gottes abgeleitet, und zwar in den Bereichen:88

  • Verführung und Ehebruch (Spr 2,16-22; 5; 6,20-35; 7),
    im Gegensatz dazu eheliche Treue (5,15-19; 31,10-31; Hld.),

  • Erziehung von Kindern (Spr 13,24; 15,5; 19,18; 22,15), Gehorsam gegenüber den Eltern ( 13,1.18; vgl. 10,1; 17,21; 19,26; 23,24f),

  • politische und richterliche Gerechtigkeit (16,10.12-15; 17,15; 18,5; 20,8.26; 22,22; 28,3.16; 29,14; 31,1-9),

  • Taktgefühl (15,1); Vertraulichkeit (11,13), Geduld (14,29), Ehrlichkeit (15,31f; 27,6), Vergebung (17,9), Loyalität (17,17; 18,24), besonnenes Benehmen (25,17; 27,14), praktische Hilfe (27,10),
    im Gegensatz dazu: Erkaufte Freundschaft (19,4), Klatsch (20,19), Zorn (22,24f), Schmeichelei (27,21), unangebrachtes Mitgefühl (25,20),

    Bockmuehl, Jewish Law, S. 95, mit Verweis auf von Rad, Theologie des Alten Testaments. Band 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, 10. Auflage (1. Auflage 1960), München: Kaiser, 1992, S. 434f.
    Ebd., S. 459.

    Wright, Ethics, S. 369-71. 362

86

87 88

  • wirtschaftliche Gerechtigkeit (11,24f; 14,31; 17,5; 19,17; 21,13; 22,9.16),

  • Faulheit (12,11; 14;23; 18,9; 22,13; 24,30-34; 26,13-16; 28,19),

  • Missbrauch von Worten (12,19.22; 13,3; 14,5; 15,2.23; 18,6-8.20f).

    Das Buch Prediger mahnt als Hauptsumme seiner Lehre: »Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das gilt für alle Menschen« (12,13), denn es gibt mit dem Schöpfergott einen Richter, vor dem sich einmal alle verantworten müs- sen (V.14).

    Abschließend sei auf den wesentlichen Beitrag des Buchs Daniel zur Frage nach einer allgemeingültigen Ethik hingewiesen.89 Durch Daniel teilt sich Jhwh ähnlich wie durch Joseph den jeweiligen Herrschern der Welt mit: Nebukad- nezar (Kap. 2-4), Belsazar (Kap. 5) und Darius (Kap. 6). Ungeachtet ihrer Nati- onalität fordert er von ihnen (Kap. 4; 5,20-23):

    • Ehre statt Selbstverherrlichung,

    • Demut statt Hochmut,

    • und Gerechtigkeit statt Bosheit: »brich mit deinen Sünden durch

      Gerechtigkeit und mit deinen Vergehen durch Barmherzigkeit gegen Elende, wenn dein Wohlergehen von Dauer sein soll« (4,24).

      Gewissermaßen werden hier die grundlegenden Standards der Urgeschichte wieder aufgegriffen. Der selbstherrliche Wille, zu »sein wie Gott« nimmt die- sem die Ehre (Gen 3,5). Das Vorhaben, sich »einen Namen machen« zu wollen, ist Ausdruck von Hochmut (Gen 11,4). Der Gegensatz von Gerechtigkeit und Bosheit wird explizit sichtbar zur Zeit von Noah (Gen 6,5.11-13).

      Die Herrscher des Danielbuches sehen sich in moralischer Hinsicht nicht ihren Nationalgottheiten, sondern der Herrschaft des Schöpfergottes gegen- übergestellt (2,47; 3,28f.31-33; 4,31f.34; 6,27f). Das Zeugnis Jhwhs durch Da- niel unter den Weltherrschern der damaligen Zeit währt bis zum Machtantritt von Jhwhs Gesalbten Kyrus (Dan 1,21; 6,29; 10,1; vgl. Jes 44,28; 45,1), mit des- sen Edikt das Alte Testament endet (2.Chr 36,22f; vgl. Esr 1,1-4).

Noachidische Gebote

89

Vgl. Bockmuehl, Jewish Law, S. 95f.

363

Siegbert Riecker

4. Abschließende Beobachtungen
4.1 Zum Inhalt eines allgemeingültigen Ethos

Inhaltlich zeichnen sich in dieser kursorischen Zusammenschau recht ver- schiedenartige Beiträge des Alten Testaments zu einer allgemeingültigen Ethik ab.

Mit den »Mandaten« der Schöpfungs- und Erhaltungsordnung gewährt Gott dem Menschen Zugriff auf die drei Bereiche Pflanze, Tier und Mensch, jedoch nicht gleichermaßen. Hier werden die Felder einer allgemeinen Ethik abge- steckt.

Ferner zeigt das Alte Testament ein Interesse daran, die ethische Beurtei- lung des Menschen nicht nur kasuistisch an dem Halten von Geboten, sondern grundlegender festzumachen. Es gibt Einzelgebote, aber es gibt um es mit den Worten von Jesus auszudrücken τὰ βαρ􏰂τερα τοῦ ν􏰃μου »die wichtige- ren Dinge des Gesetzes« (Mt 23,23), man könnte hier von einer grundlegenden Herzenshaltung reden. Gott fordert vom Menschen Ehre statt Selbstverherrli- chung, Demut statt Hochmut und Gerechtigkeit statt Bosheit. Dies wird bereits in der Urgeschichte deutlich, vertieft dann noch einmal in dem Gericht Gottes über die Weltmächte (Fremdvölkersprüche, Daniel, vgl. ferner Mi 6,8, Hab 2,5).

Gerade im Bereich des Umgangs der Völker miteinander, insbesondere des Kriegsrechts, deutet sich an, dass Gott die Herrschaft des Menschen über den Menschen bis hin zu Sklaverei und Kriegen zumindest eine Zeitlang duldet, jedoch unmenschliche Härte und Gewalt richten wird (vgl. Ex 1,11-14; Dtn 25,17-19; 2.Kö 6,22; Am 1f). Das Alte Testament scheint in besonderer Weise darum bemüht, die Grenzen zwischen zugestandener Herrschaft und darüber hinausgehender Gewalt des Menschen gegenüber dem Menschen im Rahmen der Erhaltungsordnung genau abzustecken.

Dass sich das Ergebnis einer unmoralischen Grundhaltung in Taten festma- chen lässt, zeigen die zahlreichen »Lasterkataloge« des Alten Testaments. In der Urgeschichte lesen wir von Verführung, Mord, sexuellen Vergehen, Essen von Blut und Schamlosigkeit, im weiteren Verlauf der Genesis von Ehebruch, Inzest und Betrug. Die Listen der »Gräuel« der Kanaaniter führen detailliert okkulte und sexuelle Praktiken auf, unter anderem Götzendienst (Moloch), Ehebruch, Inzucht, Homosexualität und Sodomie. Ein großer Teil der Bestim- mungen an den ֵגר »Fremden«, welcher im Land Israel leben möchte, deckt sich mit den übrigen in der Tora genannten Anforderungen an Nichtisraeliten. Auch die Anklagen der Propheten sind sehr konkret (Am 1f; Nah 3; Hes 33;

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Hos 4; Hab 2). Hiob beschreibt den Verzicht des Weisen auf zahlreiche Laster (Hi 31), ebenso formulieren die Sprüche auffallend international.

Verblüffend für heutige Leser ist der hohe religionsethische Anspruch des Alten Testaments an alle Menschen. Ungeachtet seiner Kultur oder Religion steht jeder Mensch unter einer ethischen Verpflichtung gegenüber seinem Schöpfer, insofern er diesen wahrnimmt: ihm zu opfern als Dank für Schöp- fung und Rettung, ihn anzurufen, mit ihm zu leben und ihm zu gehorchen, wo sein Rufen, seine Gegenwart und sein Gebot vernommen wird (Beispiele Abel, Enosch, Henoch, Noah, Jonas Seeleute).

4.2 Zur Zugänglichkeit eines allgemeingültigen Ethos

Die Frage der Zugänglichkeit eines allgemeingültigen Ethos beantwortet das Alte Testament nicht einlinig. Es lassen sich für alle zu Anfang dieses Abschnit- tes aufgeführten Kategorien Belege nennen.

Nach dem Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis findet sich im Men- schen selbst ein Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse, zudem ein Emp- finden für Scham.

Die Weisheit lehrt, dass diese Welt einen Schöpfer, König und Richter hat. Aus dieser schöpfungsgemäßen Zuordnung ergeben sich zahlreiche ethische Konsequenzen:

Nach der Überzeugung der Weisen hat Jahwe der Schöpfung offenbar so viel Wahrheit delegiert, ja, er war selbst in ihr derartig gegenwärtig, daß der Mensch auf einen soliden ethischen Grund kommt, wenn er in diesen Ord- nungen lesen lernt und sein Verhalten auf die gewonnenen Erfahrungen ein- stellt.90

Auch die Aussage, dass ein Land unter dem Fehlverhalten seiner Bewohner leidet und sie ausspeien kann, weist auf geschaffene Strukturen hin. Zudem wird hier das Ziel der ethischen Anweisungen an Heiden deutlich: Es geht we- niger um deren ewige Rettung in soteriologischem Sinn, sondern um ein glück- liches Leben auf der Erde, auch wenn sich diese Zielsetzungen letztlich theolo- gisch nicht voneinander trennen lassen.

Neben den Argumenten aus der Natur kennt das Alte Testament auch Ar- gumente aus der Geschichte (vgl. Hi 20,4f; 31,13-15) und aus allgemein- menschlichen sozialen Konventionen (Gen 34,7; 2.Sam 13,12; 2.Kö 6,22).

Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, 3. Auflage (1. Auflage 1970), Neukirchen-Vluyn: Neukir- chener, 1985, S. 125, zitiert in Burkhardt, »Naturrechtsgedanke«, S. 96f. Vgl. Bockmuehl, Jewish Law, S. 90.

Noachidische Gebote

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Siegbert Riecker

Der vielleicht größte Vorzug des Konzepts Noachidischer Gebote vor dem Naturrechtsgedanken ist der Einschluss der Möglichkeit spezieller Offenba- rung an Heiden: Gott redet direkt zu den »Noachiden«. Diese Vorstellung fin- det sich auch im Alten Testament breit belegt. Die Fremden in Israel werden in die Lesung der Tora mit hineingenommen (Dtn 29,10; 31,12). Es gibt erstaun- lich viele Heiden mit Zugang zu Bibel und Gottesdienst. Gott gibt direkte ethi- sche Mahnungen an Menschen wie Kain oder Abimelech. Hier sind auch die prophetischen Fremdvölkersprüche zu beachten, insofern sie »abgeschickt« wurden.91

Die Menge der Zugangsweisen entschuldigt den Menschen nicht, etwa in- dem er sich auf das Fehlen eines eindeutig für alle Menschen gleichermaßen zugänglichen Kodex berufen könnte. Nicht eine festgelegte Offenbarungsweise, sondern die Person des Schöpfers selbst eröffnet den Zugang jedes Heiden zu seinem Willen auf eine je individuell zugeschneiderte Weise. Allerdings steht der Mensch in der Verantwortung, sich dem Reden seines Schöpfers nicht zu verschließen.

Abstract

The chapter starts with the systematic theological question of natural law or creation order. Dietrich Bonhoeffer directs our attention to Old Testament »mandates« given to all mankind from the outset. In Rabbinic biblical interpre- tation there is a quest to distinguish between specific Jewish laws and No- achide laws, i.e. commandments valid for the whole humanity. After a short methodological introduction, the Old Testament, particularly the primeval his- tory, is investigated in search for legal instructions that refer explicitly not on- ly to Jews but also to other persons. The first mandates and prohibitions of the Bible are classified into »antelapsarian mandate«, »postlapsarian hardship or- der« and »abusive enlargement«. Four levels of access to plant, animal and human are distinguished, using words of the Vulgate translation: »multiplica- tion«, »dominion«, »operation« and »consolation«. Quite a surprising overlap can be observed between moral values of primeval history and instructions given to the ger (alien). The Later Prophets reveal a great interest in interna-

Vgl. dazu Richard Schultz, »􏰀Und sie verkünden meine Herrlichkeit unter den Nationen.􏰁

Mission im Alten Testament unter besonderer Berücksichtigung von Jesaja«, in: Hans Kasdorf und Friedemann Walldorf, Hg., Werdet meine Zeugen. Weltmission im Horizont von Theologie und Geschichte, Neuhausen-Stuttgart: Hänssler, 1996, S. 33-53, hier S. 45.

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tional moral standards concerning a righteous judgment of foreign nations. The third canon part affirms the basis of those standards (Psalms), displays a further paradigm of a righteous gentile (Job) and provides us with universal moral principles drawn from the character of the creator of humanity (Prov- erbs). The book of Daniel affirms the universal divine obligation of the prime- val history, to honor one’s creator, to be humble and righteous. It can be ob- served that access of gentiles to the divine will is portrayed in a multiplex manner. After all it is not a »natural« way of revelation, but the person of the creator himself, who is guarantee of an evenhanded access to his moral will.

 

 

 

 


   
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